Krankheitsverarbeitung bei Brustkrebs
„Trotz inzwischen guter Heilungschancen und deutlich gebesserter Überlebenschancen wird eine Krebserkrankung als potenziell lebensbedrohlich empfunden“, so Diplom-Psychologin Dr. Petra Tilch im Brustkrebszentrum und Gynäkologischen Krebszentrum in den Helios Kliniken Schwerin.
Die Auseinandersetzung mit einer Krebsdiagnose und den daraus resultierenden körperlichen, psychischen, existenziellen und sozialen Belastungen stellt eine Herausforderung für die Betroffenen und ihre Angehörigen dar. „Das Verarbeiten der Krankheit zur Bewältigung dieser Belastungen ist ein individueller Lernprozess über den gesamten Krankheitsverlauf. Jede Patientin muss ihren eigenen Weg finden, mit den Belastungen umzugehen, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen und neue emotionale Stabilität zu gewinnen“, so Dr. Tilch.
Inwieweit etwa körperliche Veränderungen, Nebenwirkungen und Spätfolgen der Krebsbehandlung als belastend erlebt werden und wie jemand damit umgeht, kann sehr unterschiedlich sein. Oft hängt es davon ab, wie der Umgang mit anderen Krisen war, aber auch von privaten und beruflichen Gegebenheiten sowie dem Alter der Betroffenen. „Wichtig ist: Sich Zeit zu nehmen und sich nicht unter Druck setzen zu lassen. Ärztinnen und Ärzte, Pflegepersonal und auch Angehörige können die Krankheitsbewältigung nicht von außen einfordern oder beschleunigen“, erklärt die Psychologin.
Bewusste und unbewusste Bewältigungsstrategien
Krankheitsverarbeitung ist einerseits ein bewusster Prozess zur Bewältigung der Krebserkrankung (Coping). Andererseits laufen dabei auch unbewusste Prozesse ab, sogenannte Abwehrmechanismen, die vor zu starken Emotionen und Affekten schützen, die Betroffene in der Situation überfordern würden. Bewältigungsstrategien können nebeneinander oder abwechselnd nacheinander auftreten.
Phasen der Krankheitsbewältigung bei Brustkrebs
Im Verlauf der Erkrankung durchleben Betroffene verschiedene Phasen der Krankheitsverarbeitung, in denen sie sich jeweils neu orientieren und Möglichkeiten finden müssen, bestehende oder erwartete Belastungen zu bewältigen. Angst steht dabei fast immer im Vordergrund.
Diagnose
Eine Art „seelischer Schock“ setzt ein. Es findet eine Konfrontation mit der Endlichkeit des Lebens statt, die Fassungslosigkeit, Erschütterung, Unglauben, Unsicherheiten und Angst auslöst. „Viele Betroffene sind im Diagnosegespräch emotional blockiert und fühlen sich emotional betäubt. Sie hören, dass sie Krebs haben und nehmen keine weiteren Informationen mehr auf“, so Dr. Tilch. Es ist ratsam, Angehörige mit zum Gespräch zu nehmen, da bereits kurz nach Diagnosestellung weitrechende Entscheidungen getroffen werden müssen. Psychische Verarbeitungsmechanismen wie Informationssuche, aktive Problembewältigung und Verleugnung sowie Vermeidung laufen oft parallel ab.
Behandlung
Neben der körperlich relevanten Behandlung, bleibt jedoch die psychische Reflexion auf der Strecke. Medizinische Behandlungen, die das erste Mal erfolgen, werden als besonders belastend empfunden. „Insgesamt ist das erste Jahr nach der Erstdiagnose bei 25 bis 50 Prozent der Brustkrebserkrankten mit starken psychischen Belastungen verbunden“, so Dr. Tilch.
Therapien werden als „paradoxe“ Therapien erlebt, da die Lebensqualität durch sie zunächst erheblich beeinträchtigt wird. Diese Phase ist geprägt von Kampfgeist und Stoizismus (Unerschütterlichkeit: „Da muss ich durch!“).
Post-Behandlung (Remission)
Das Ende der onkologischen Therapie wird häufig als Phase der besonderen Vulnerabilität (Verwundbarkeit) für psychische Belastungen beschrieben. Ärztliche Kontakte werden drastisch reduziert und das damit verbundene Sicherheitsgefühl schwindet.
Nach der Reha erwarten Betroffene und Umwelt eine Rückkehr zur Normalität, doch die eigene Befindlichkeit kann in Niedergeschlagenheit, Verzweiflung, Angst, Antriebsminderung und Hoffnungslosigkeit umschlagen. Oft ist jetzt erst Raum für das emotionale Auseinandersetzen mit der Erkrankung und der Erfahrung, Brustkrebs gehabt zu haben.
Rückfall (Rezidiv) oder Fortschreiten der Erkrankung, Metastasierung (Progress)
Phase, in der Gefühle von Kontrollverlust, Schuld und Resignation dominieren. Eine Heilung kann meist nicht mehr erwartet werden, dennoch ist eine palliative Behandlungs-strategie kein unmittelbares Todesurteil mehr. Durch das Ausschöpfen aller Therapiemethoden ist ein Leben mit Krebs oft über viele Jahre möglich. Der Umgang mit der unsicheren Prognose stellt Betroffene vor große Herausforderungen. Wenn die Ursache für die Krebserkrankung in psychischen Gründen gesehen wird, erleben sie ein Rezidiv manchmal als persönliches Versagen.
Hochpalliative Situation am Lebensende
In dieser Phase findet eine Konfrontation mit der Endlichkeit des Lebens statt. Sie ist geprägt von wiederkehrenden Gefühlen der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins. Hilflosigkeit und Trauer müssen bewältigt und ausgehalten werden. Nicht gelebte Lebenswünsche und ungelöste Konflikte vermindern die Akzeptanz des Todes.
Langzeitüberlebende (Cancer Survivors)
Früherkennung und stetige Behandlungsfortschritte lassen immer mehr Menschen mit Krebs viele Jahre überleben. Körperliche, psychische und soziale Langzeitfolgen müssen bewältigt werden. Lebenslange Nachsorge ist wichtig. Es herrscht ein ausgeprägtes und andauerndes Gefühl der Verletzlichkeit und existentiellen Bedrohung. Auch Jahre nach der Behandlung kann es zu einer seelischen Krise kommen.
Behandlungsängste während der Brustkrebstherapie reduzieren
Betroffene haben unklare Ängste vor belastenden, akuten Nebenwirkungen der Therapie, Einschränkungen im Alltag und Langzeitfolgen. Dabei ist die medikamentöse Therapie durch Fortschritte in der Behandlung von Nebenwirkungen (Supportivtherapie), ein verändertes Nebenwirkungsspektrum systemischer Therapien und dem Einsatz neuer zielgerichteter Substanzen insgesamt verträglicher geworden. Statt der „klassischen“ Nebenwirkungen, wie Übelkeit und Erbrechen, die bei 90 Prozent der Betroffenen kaum noch eine Rolle spielen, weil dem vorgebeugt wird, steht der Symptomkomplex Fatigue (Müdigkeit, Erschöpfung) im Vordergrund.
Das können Betroffene tun
- Informationen über Nutzen und Nebenwirkungen einfordern
- Ängste und Befürchtungen ansprechen
- Psychoonkologische Unterstützung suchen bei zu großer Angst
„Für Chemotherapie und Bestrahlung gilt, dass die Angst oft schon nach der ersten Behandlung nachlässt, weil die Betroffene nun weiß, was auf sie zukommt“, so die Psychologin.
Angst vor körperlicher Veränderungen durch Brustkrebs reduzieren
Mastektomie (vollständige Entfernung der Brustdrüse bei Frauen)
Viele Betroffene verspüren Trauer wegen des bevorstehenden oder bereits erfahrenen Verlusts der körperlichen Unversehrtheit – durch den Eingriff an einem zentralen Merkmal der weiblichen Identität und sexuellen Attraktivität. Es treten erhebliche Verunsicherungen im körperbezogenen Selbstwert auf. Betroffene haben zudem Angst, die Partnerin/den Partner zu überfordern oder zu verlieren.
Was kann helfen?
- Unterstützung in der Krankheitsverarbeitung suchen und die Partnerin/den Partner einbeziehen.
- Zeit nehmen, um das veränderte Körperbild zu akzeptieren und den Selbstwert neu einzuordnen.
- Betroffene selbst entscheiden lassen, welcher Umgang mit dem Brustverlust für sie der richtige ist
Gemindertes oder fehlendes sexuelles Verlangen
„Sexuelle Störungen bei Brustkrebs sind durch viele Faktoren bedingt und oft eine Langzeitfolge“, so Dr. Tilch. Körperliche Nebenwirkungen der Krebsbehandlung (etwa Fatigue, Hitzewallungen, Schwitzen, Trockenheit der Scheide), ein verändertes Körper- und Selbstbild, Versagensängste, sich nicht mehr attraktiv zu fühlen, die Angst die Partnerin/den Partner zu verlieren, aber auch andere psychische Belastungen der Krebsbehandlung wirken sich auf die Sexualität aus.
Was kann helfen?
- Betroffene und Partner:innen können lernen, mit körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen und Veränderungen umzugehen.
- Mit der Partnerin oder dem Partner über Ängste und Sorgen sprechen.
- Gedanken über eigene Wünsche und Bedürfnisse machen und austauschen.
- Gespräch mit behandelnden Ärzt:innen suchen, gegebenenfalls eine Paarberatung in Anspruch nehmen.
Haarverlust
Der Haarverlust belastet Betroffene oft am stärksten, da es ein nach außen sichtbares Kennzeichen ihrer Erkrankung ist. Ihnen fehlt jetzt das äußere Symbol für Schönheit und Weiblichkeit.
Was kann helfen?
- Beratung über eine Versorgung mit Perücken oder Tüchern.
- Nicht warten bis Haare ausfallen, sondern Kontrolle über die Situation behalten und die Haare selbst abrasieren.
- Auseinandersetzen mit den Bereichen der Weiblichkeit, die durch den Krebs beeinträchtigt sind, aber auch psychische Ressourcen aktivieren.
Was hilft bei der Bewältigung von psychischen Belastungen?
„Betroffene hören oft Sätze wie ‘Du musst immer positiv denken, dann wirst du wieder gesund‘. Häufig ist das aber ein Ausdruck eigener Ängste des Umfeldes vor der Krankheit. Studien zeigen keine eindeutigen Anhaltspunkte, das eine bestimmte Art der Krankheitsverarbeitung besonders günstig ist und das Leben womöglich verlängern kann. Eine innere Einstellung kann die Krankheit nicht heilen“, so die Expertin.
Betroffenen und Angehörigen hilft es, wenn sie flexibel und individuell auf die Erfordernisse einer Situation reagieren können, um zu entscheiden, was gerade passt und notwendig ist. Etwa
- Sich aktiv-handlungsorientiert über Behandlungsmöglichkeiten informieren: Eigene Interessen gegenüber Ärzt:innen vertreten oder Ablenkung suchen, um auf andere Gedanken zu kommen; negative Gefühle einzugrenzen und auch weiterhin positive Erfahrungen zu ermöglichen, sich jemanden im Gespräch anvertrauen; Hilfe annehmen.
- Sich mit eigenen Ängsten auseinandersetzen: Hoffnung auf realistische Ziele richten; lernen mit bestehenden Einschränkungen zu leben und den Blick darauf zu richten, was trotzdem geht.
- Verleugnung und Verdrängung, wenn Ängste und Belastungen sonst unerträglich wären: Dieses Verhalten kann in bestimmten Phasen eine sinnvolle Reaktion darstellen, Betroffene gewinnen dadurch Zeit für die Verarbeitung. Aber: Als starrer Abwehrmechanismus ungünstig, da eine offene Kommunikation verhindert wird und dies zu Problemen mit Angehörigen und Mediziner:innen führt.
- Depressive Bewältigungsmuster und sozialer Rückzug als Ausdruck des Betrauerns: Vielfältige Verlusterlebnisse im Rahmen der Krebserkrankung und eine Auseinandersetzung mit existenziellen Themen; dient der Reflexion und Veränderung von Einstellungen zu Prioritäten im Leben.
- Durch Engagement gekennzeichnete Bewältigungsmuster: Akzeptanz der Erkrankung; Neubewertung der belastenden Situation und Kampfgeist, die zwar keinen Einfluss auf den Krankheitsverlauf haben, stärken aber ein positives Gefühl, der Situation nicht vollkommen ausgeliefert zu sein und selbst zum eigenen Wohlbefinden beizutragen; sichern der eigenen Lebensqualität.
Mut machen
Wichtig ist, Betroffene zu ermutigen, ihren eigenen Weg im Umgang mit der Krankheit zu suchen:
Das gelingt durch:
- Orientierung an dem, was für sie selbst wichtig ist.
- Eigene Bedürfnisse, Wünsche und Vorstellungen ernstnehmen.
- Entdecken, was im Umgang mit Belastungen am besten zu ihnen und ihren Ressourcen passt.
Das hilft Betroffenen, um sich nicht ausgeliefert und machtlos zu fühlen:
- Sport und körperliche Aktivität
- Gesunde Ernährung
- Entspannung und Entlastung
- Sich Gutes tun
Welche Entspannungsmethoden können helfen?
Diese Methoden dienen der Entlastung, fördern den Schlaf und die Entspannung. Außerdem wirken sie gegen Stress und Symptome, wie Übelkeit oder Schmerzen. Zudem mindern sie Müdigkeit, lindern Niedergeschlagenheit sowie Ängste und erhöhen die Lebensqualität.
- Autogenes Training
- Progressive Muskelentspannung nach Jacobsen
- Hypnose
- Yoga
- Achtsamkeitsbasierte Verfahren (Mindfulness), Qigong, Tai-Chi
- Gelenkte Imagination und Visualisierung
Welche Rolle spielen Familie und Freunde?
Eine Krebserkrankung betrifft auch das familiäre und soziale Umfeld der Betroffenen. Angehörige und Freunde, insbesondere die Partnerin/der Partner, befinden sich in einem konfliktträchtigen Spannungsfeld: Auf der einen Seite sind da die Erwartungen der Betroffenen, des sozialen Umfeldes und des Behandlungssystems. Dem gegenüber steht die eigene Belastung, die Ohnmacht und Hilflosigkeit. Der Alltag wird von der Situation und den Belangen der Betroffenen dominiert. Angehörige erhalten oft weniger Unterstützung und ihre Belastungen werden weniger wahrgenommen.
Offene Kommunikation, partnerschaftliche Nähe sowie soziale Unterstützung wirken sich für die Betroffenen schützend aus. Diese erleichtern die gemeinsame emotionale Anpassung an die Erkrankung und deren Folgen, steigern Hoffnung und Lebensqualität und verbessern die Stimmung.
Welche Auswirkungen hat eine Brustkrebserkrankung auf minderjährige Kinder?
Kinder sind als Familienangehörige konfrontiert mit:
- Beängstigenden Symptomen der Erkrankung, wie Haarausfall, Schwäche
- Belastungen intensiver medizinischer Behandlungen
- Fragen nach der Erblichkeit der Erkrankung
- Ängsten, dass die Mutter sterben könnte
- Veränderungen im Alltag und in familiären Rollenverteilungen
Betroffene machen sich häufig Sorgen, um ihre eigene Erkrankung und sind dabei im Umgang mit ihren Kindern unsicher.
Eltern wollen ihre Kinder beschützen, trotzdem sollten diese so früh wie möglich von der Erkrankung der Mutter erfahren. Kinder sind sehr feinfühlig und spüren auch ohne Worte die Veränderungen in der Familie. Sie benötigen altersgerechte Informationen über die Krebserkrankung, um sich orientieren zu können. Dabei müssen kindliche Entwicklungsphasen und dafür typische Ängste berücksichtigt werden.
Kinder sollten ermutigt werden, Fragen zu stellen sowie Fantasien, Ängste und Befürchtungen zu äußern. Der offene Umgang innerhalb der Familie mit der bedrohlichen Wirklichkeit ist weniger ängstigend, als mit diffusen Fantasien und Ängsten alleingelassen zu werden.
Grundregel: Eltern müssen nicht alles im Detail erzählen, aber alles, was erzählt wird, sollte der Wahrheit entsprechen. Es sollten keine Versprechungen gemacht werden, deren Erfüllung nicht in der Macht der Betroffenen liegt.
Umgang mit der Angst bei fortgeschrittenem Brustkrebs
„Sehr viele Betroffene mit einer weit fortgeschrittenen Krebserkrankung haben den Wunsch, über Tod und Sterben zu sprechen und das eigene Leben zu Ende zu denken“, so Dr. Tilch. Um die Angst vor dem Sterben zu reduzieren, helfen Vorsorge gegen Schmerzen, Atemnot und andere belastende Symptome, Informationen über Palliativstationen, ambulante palliative Versorgung (SAPV) oder Hospize, und die Auseinandersetzung damit, was körperlich beim Sterben passiert.
Wichtig ist, weiterhin Hoffnung zu haben, etwa auf weniger Schmerzen, schöne Stunden mit der Familie und Enkelkindern, Kontrolle über das Geschehen behalten und Würde zugestanden zu bekommen. Ein persönliches Vermächtnis herzustellen, den Abschied vom Leben zu gestalten, Zusammenhänge des eigenen Lebens zu verstehen und einen eigenen Sinn im Leben und Sterben zu suchen (Kohärenz), sind ebenfalls hilfreich.
An wen können sich Betroffene wenden?
- Psychoonkolog:innen im Krankenhaus
- Psychoonkologische Unterstützung in der Rehaklinik
- Psychosoziale Krebsberatungsstellen
- Selbsthilfegruppen
- Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums
- Niedergelassene Psychotherapeut:innen
- Klinikambulanzen mit psychoonkologisch-psychotherapeutischen Schwerpunkt
- Allgemeine Lebensberatungsstellen
- Angebote speziell für junge Erwachsene
- Seelsorge