Steigert Corona das Risiko für Depressionen?
„Sorgen und Ängste aber auch gefühlte und reale Bedrohungen stellen in extremen Zeiten, etwa einer Pandemie, sowohl für Menschen mit als auch ohne psychische Erkrankungen eine große Herausforderung dar“, sagt Prof. Katarina Stengler, Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Helios Klinikum Leipzig. „Bestimmte Konstellationen können für Menschen besonders vulnerabel, also störanfällig, sein und unter anderem zu Depressionen führen.“
Herausfordernde Konstellationen sind zum Beispiel:
- Menschen, die selbst oder Angehörige durch Covid-19 erkrankt erlebt oder verloren haben, können besonders von depressiven Episoden betroffen sein
- anhaltende oder zunehmende Sorgen um Existenzen sowie berufliche und soziale Stabilität können verstärkt zu Ängsten und Depressionen führen
- Arbeitsplatzverlust durch die Nachwirkungen von Corona
„Es gibt nicht ‚den oder die Depressive‘ – vielmehr spielen individuelle Voraussetzungen und Bedingungen eine Rolle. Etwa, ob es Unterstützung durch Familie und Freunde gibt. Relevant sind auch die Faktoren alleinlebend sowie Geschlechter- und Altersbezüge. Zu den Hochrisikogruppen zählen etwa hochbetagte, alleinlebende Männer,“ erklärt die Expertin.
Was sind Symptome einer Depression?
Die Symptome einer Depression sind vielschichtig. Beeinträchtigt sind Stimmung, Antrieb, Motivation, Interessenslage, Lust und Leidenschaft. Aber auch soziale Kontakte und der berufliche Alltag können unter der depressiven Stimmung leiden.
Es kann außerdem zu Gedankenkrisen, Negativismus bis hin zu Lebensüberdrüssigkeit, suizidalen Gedanken oder Suiziden kommen. Der Suizid (Selbstmord) kennzeichnet den schwersten Verlauf einer Depression.
Wenn länger als zwei Wochen mindestens zwei Hauptsymptome und mindestens zwei Zusatzsymptome vorliegen, können diese Hinweise auf eine (schwere) Depression sein.
Psychische Belastung in allen Altersgruppen
Die Corona-Pandemie zeigt eindrucksvoll, wie schnell die Normalität pausiert werden kann und sich der Mensch an eine neue und unbekannte Situation gewöhnen muss. Dass eine Umstellung allerdings funktionieren kann, weiß Prof. Stengler: „Menschen sind soziale Wesen und brauchen soziale Kontakte, aber sie sind durchaus in der Lage, Extremsituationen auszuhalten – auch über längere Zeiträume.“
Besonders hart trafen die Einschränkungen durch Corona in erster Linie diejenigen, die das Gefühl haben, ohnehin schon abgehängt zu sein. Zum Beispiel: Alleinerziehende, Geringverdiener sowie Risikogruppen, wozu Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen jeden Alters zählen. Die Corona-Maßnahmen haben viele psychische Belastungen mit sich gebracht, etwa eine fehlende Tagesstruktur, soziale Isolation oder Angstgefühle.
Die Folgen von Corona auf die psychische Gesundheit
Jede Altersgruppe hat die Corona-Pandemie bislang anders aufgenommen und ging anders mit ihr um. Allen gleich ist, dass sich jede/r Einzelne an den neuen Alltag anpassen muss.
Kinder und Jugendliche
Die erlebten Erfahrungen sind allesamt sehr komplex. Aber: Kinder und Jugendliche sind stark und nicht zwingend Opfer der Corona-Verhältnisse. „Das schwierigste für Kinder und Jugendliche war am Anfang der Pandemie, dass ad hoc alles soziale Leben, Schule, Sport, Musik, Veranstaltungen und lockere Treffen wegfielen“, so Prof. Stengler. Familien konnten diese plötzlichen Lücken meist nur zum Teil kompensieren und auch die familiären Strukturen waren auf einmal anders als gewohnt.
Mädchen und Jungen, die seit der Pandemie mehr Verantwortung übernehmen und deshalb in ihren Kompetenzen und Fähigkeiten reifen, können ihre Ressourcen stärken. Wichtig ist aber, dass sie ihre kindgerechte Freizeit haben – trotz der neuen Situation.
Denn klar ist auch: Kinder und Jugendliche können in extremen Belastungslagen psychische Störungen davontragen. Eltern sollten auf veränderte Verhaltensweisen achten.
„Ob die Einschränkungen möglicherweise zu Defiziten und Belastungen geführt haben oder aber die Ressourcen der Kinder, wie Verantwortung und Hilfe für andere, stärken konnten, wird sich erst langfristig zeigen“, meint die Chefärztin.
Erwachsene
Auch Erwachsene mussten sich in der Corona-Pandemie anpassen. Einerseits im beruflichen, wo es inhaltliche und strukturelle Umstellungen geben kann, zum Beispiel in Form von Homeoffice. Andererseits privat, wo bei Familientreffen oder der Urlaubsgestaltung Abstriche unumgänglich sind. Prioritäten müssen geprüft und neu gesetzt werden. Es stellen sich Fragen wie: Wie schütze ich meine Familie ohne jemanden zu vergessen oder aus den Augen zu verlieren? Wie kann ich gleichzeitig soziale Beziehungen pflegen?
Hinzukommen existenzielle Bedrohungen und ökonomische Einschränkungen. Die Sorge um den Verlust des Arbeitsplatzes und mögliche Verschuldungen wächst im Laufe der Pandemie.
„Dennoch können wir auch Ressourcen aus der Not ziehen. Denn Not macht Menschen erfinderisch und schafft Solidarität. Zum Beispiel, wenn man plötzlich einen sensibleren Blick auf seine älteren Nachbarn hat und Unterstützung, die bislang nicht notwendig war, umsetzen kann“, sagt Prof. Stengler.
Partnerschaft
Paare erfahren durch die Corona-Krise inhaltliche und strukturelle Änderungen – sowohl positiv als auch negativ. So gab es in Beziehungen plötzlich ganz andere zeitliche Verfügbarkeiten und Themen. Das Miteinander musste neu organisiert, inhaltlich definiert und gemeinsam gemeistert werden.
Damit kein Beziehungsstress aufkommt, hilft es, offen und ehrlich miteinander zu reden. Wer in der Partnerschaft bedingt durch die Corona-Maßnahmen das Gefühl von zu viel Nähe hat, sollte sich bewusst Zeit für sich nehmen. Gleiches gilt, wenn das Gefühl von zu wenig Nähe und Alleinsein aufkommt. Hier können Gespräche helfen.
Singles
Auch Singles treffen die neuen Abläufe unvorbereitet. Dennoch waren sie noch mehr von den anfänglichen Corona-Maßnahmen („ein Haushalt“) betroffen. Soziale Kontakte sollten vermieden werden und ein Großteil arbeitete, wenn möglich, im Homeoffice.
Gerade zu Beginn der Corona-Pandemie war es schwieriger, sich zu verabreden. „In dieser Zeit wird das Singlesein ganz bewusst und eine Angst vor dem Alleinsein und der Einsamkeit wächst. Vor allem Singles und junge Menschen fühlten sich zu Beginn der Corona-Krise besonders einsam“, so Prof. Stengler.
Herausforderungen für depressive Menschen während Corona
„Depressive Menschen stehen während der Corona-Pandemie vor denselben Herausforderungen wie andere Menschen auch“, sagt Prof. Stengler. Unter Umständen fällt es ihnen aber schwerer die definierten Kontaktverbote und Social Distancing zu ertragen beziehungsweise aktiv zu bewältigen. Zudem kann es schwerer fallen, sich schnell, flexibel auf die notwendigerweise neuen digitalen Kommunikationsformen einzustellen.
Wiederum: psychisch kranke Menschen, die gut vernetzt sind, können Krisen durchaus gut bewältigen. Sind sie hingegen bereits sozial isoliert und verstricken sie sich mit all den Problemen in ihrer Gedankenwelt, können sich ohnehin schon bestehende Ängste potenzieren.
Erhöhtes Suizid-Risiko bei depressiven Menschen durch Corona?
Einsamkeit, Alleinsein und Existenzängste durch die Corona-Pandemie können das Risiko für suizidale Krisen steigern. „Im klinischen Kontext zeigt sich, dass Menschen, die in großer psychischer Not durch Corona sind und in depressive Krisen fallen, ein hohes Risiko für Suizidalität haben“, so Prof. Stengler.
Die Chefärztin berichtet, dass auch Patient:innen mit schweren depressiven Krisen stationär für eine Behandlung aufgenommen werden – und sehr oft mit suizidalen Gedanken. „Wer Suizidgedanken hat, sollte sich an vertraute Menschen wenden. Ein erstes Gespräch kann dabei helfen, die Gedanken jemandem anderen anzuvertrauen und gemeinsam Hilfe zu suchen“, rät Prof. Stengler.
Tipps für Menschen mit Depressionen in Corona-Zeiten
Depressionen lassen das Negative im Leben noch größer erscheinen, sodass Sorgen und Ängste aber auch Einsamkeit und Alleinsein stärker in den Fokus rücken. „Sich jetzt schon auf die Zeit nach der Krise vorzubereiten, kann helfen. Es stärkt den Willen und lässt die aktuellen Probleme besser meistern“, so die Chefärztin. Sie ergänzt: „Wer sich langfristig auf etwas Schönes freut, etwa einen Urlaub oder unbeschwerte Treffen mit Familie und Freunden setzt Energien frei und schafft Zuversicht“.
Um die Zeit bis dahin zu meistern, hat Prof. Stengler Tipps, wie Betroffene der depressiven Erkrankung gegensteuern können.
- Alltag definieren: Hier geht es darum, zu definieren, was „Alltag“ in Corona-Zeiten heißt und wie er aussehen kann – ganz individuell für den privaten und beruflichen Bereich (als Wochenplan). Das ist zu Beginn herausfordernd, kann es aber einfacher machen, mittelfristig Wege zu finden, die Betroffene bewältigen können.
- Aktiv bleiben: Wer nicht unter Quarantäne steht, sollte sich auch außerhalb der Wohnung bewegen. Spaziergänge und Joggen können eine gute Ablenkung sein.
- Bettzeiten einhalten: Nicht länger als sonst im Bett bleiben. Denn bei vielen Betroffenen führt eine längere Liegedauer und auch längerer Schlaf zu einer Zunahme an Erschöpfung und Depression.
- Kontakte: Wer im Homeoffice arbeitet oder unter Quarantäne steht, kann sich mit Familie und Freunden zum Telefonieren oder Videochatten verabreden. Dabei am besten nicht nur über das Coronavirus, sondern lieber über andere Themen sprechen.
- Seriöse Informationsquellen nutzen: Fakten mindern Sorgen und Angstgefühle. Dabei sollten ausschließlich seriöse Quellen bevorzugt werden. Der Nachrichtenkonsum sollte sich auf ein- bis zweimal täglich begrenzen.
So können Angehörige Betroffenen helfen
„Angehörige sind wichtig für Betroffene, die depressiv erkrankt sind. Gemeinsam können sie einen ‚normalen‘ aber auch den durch Krankheit und Krisen beeinträchtigten Alltag aufrechterhalten“, sagt Prof. Stengler.
Depressiv Erkrankte können mit der Unterstützung ihrer Angehörigen ihren Alltag neu definieren und Aufgaben verteilen. Dabei sollten die Betroffenen jedoch nicht aus allen Pflichten herausgenommen werden, vielmehr sollte eine gute Abstimmung getroffen werden.
Zudem können Angehörige depressiv Erkrankten Hoffnung geben und ihren Blick auf die Zukunft lenken. Das gelingt Betroffenen mit einer depressiven Erkrankung meist nur schwer von allein.
Wo finden Betroffene Hilfe?
Prof. Stengler rät dazu, in Krisenzeiten Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn Überforderung droht. Dies ist sowohl telefonisch oder persönlich möglich.
Mögliche Anlaufstellen sind:
- Ärztinnen und Ärzte Ihres Vertrauens
- Haus- und Fachärzt:innen
- Betroffenenvereine
- Selbsthilfegruppen
- Deutsche Depressionshilfe
- Krisentelefone
Hilfe holen, wenn es nicht mehr geht
Wer durch die Corona-Krise depressive Symptome zeigt oder wessen Depression sich dadurch verstärkt, sollte sich nicht scheuen um Hilfe zu bitten. Depressive Symptome sind vielfältig und sollten ernst genommen werden. Welche Auswirkungen die Corona-Pandemie langfristig auf die Psyche haben wird, lässt sich jetzt noch nicht sagen. Aber feststeht: Menschen können mit Krisen umgehen.
Dieser Artikel gibt den derzeitigen Wissensstand des zuletzt aktualisierten Datums wieder. Er wird regelmäßig nach den neuesten wissenschaftlichen und medizinischen Kenntnissen aktualisiert.