Herr Chefarzt Dr. Prass, wie stehen Sie grundsätzlich der Corona-Schutzimpfung gegenüber?
Dr. Konstantin Prass: Seit 2020 bestimmt das neuartige Coronavirus unser Leben. Schon seit Monaten begegnen wir der Pandemie mit allen notwendigen und vorgeschriebenen Maßnahmen – können die Verbreitung des Virus so aber nur eindämmen. Mit der Schutzimpfung haben wir nun eine Chance, sie zu bezwingen.
Nach den anfänglichen Schwierigkeiten hinsichtlich des Impfstarts, hoffe ich nun, dass bald alle Impfwilligen geimpft werden können. Denn nur so können wir Leben retten, schwere Erkrankungen verhindern und auch wieder zur Normalität zurückkehren. Der große Optimismus und die positive Einstellung zur Impfung sind also naheliegend. Seit über 200 Jahren nutzen wir Impfungen, konnten so beispielsweise die Pocken ausrotten – Impfen ist eine medizinische Erfolgsgeschichte!
Wie erklären Sie sich, dass gerade MS-Kranke an Informationen zur Impfung interessiert sind?
Dr. Prass: MS-Patientinnen und -Patienten sind, bedingt durch ihre Erkrankung, oft sehr gut über das Immunsystem, Impfungen und Umgang mit Infektionen informiert – insofern verwundert es mich nicht, dass sie sich auch mit den aktuellen Impfempfehlungen klug und intensiv auseinandersetzen. Zum einen nehmen viele MS-Betroffene Medikamente, die auf das Immunsystem wirken, zum anderen wissen sie, um die Bedeutung von Allgemeininfekten für ihre MS-Erkrankung. Da liegen Fragen auf der Hand.
Raten Sie MS-Patientinnen und Patienten zu, sich impfen zu lassen?
Dr. Prass: Oft verbergen sich ja zwei Fragen dahinter. Zum einen: Kann mich diese Impfung schützen? Und zum anderen: Könnte bei meiner Grunderkrankung die Impfung schlecht verträglich sein? Während in der aktuellen Auseinandersetzung viel über die Verträglichkeit diskutiert wird, ist für Patientinnen und Patienten mit MS die Frage nach der Wirksamkeit besonders wichtig. Generell kann eine Impfempfehlung ausgesprochen werden: Auch bei ihnen wird die Impfung wirksam sein. Bei manchen MS-Medikamente sollte der Impfzeitpunkt mit der betreuenden Neurologin beziehungsweise Neurologen abgestimmt werden. Das betrifft vor allem die zyklisch, also im mehrmonatigen oder jährlichen Abstand, eingesetzten Medikamente.
Also eine klare Impfempfehlung?
Dr. Prass: Ja, ganz klar. Auch MS–Patientinnen und -Patienten sollten sich impfen lassen – dies ist aber mit ihrer betreuenden Fachärztin beziehungsweise ihrem betreuenden Facharzt zu besprechen.
Man hört doch aber viel zu Nebenwirkungen und Reaktionen?
Dr. Prass: Auch da lohnt die Beantwortung aus zwei Blickwinkeln. Eine Impfung ist ein medizinischer Eingriff ins Immunsystem. Dieses soll zu einer spezifischen, schnellen Reaktion gegen den Erreger befähigt werden: zur Infektionsabwehr. Man könnte sagen, „es wird präzise angeheizt“. Während diese Reaktion des Immunsystems auf die Impfung für viele Menschen nicht oder kaum bemerkbar ist, erleben einige eine frühe Reaktion auf die Impfung. Sie entwickeln Beschwerden wie Muskel-, Kopf- oder Gliederschmerzen, Fieber oder Abgeschlagenheit. Mit anderen Worten: Sie erleben die Auseinandersetzung des Immunsystems mit dem Impfstoff. Diese eigentlich erwartbaren Reaktionen, die wir von vielen Impfungen kennen, sind zumeist mild und kurz.
MS-Erkrankte können auf derartige Symptome auch mit einer Zunahme bekannter Beschwerden reagieren. Manche kennen dieses „Uthoff-Phänomen“, das bei Fieber auftreten kann. Auch hier kann Entwarnung gegeben werden: Es hält ebenso nur kurz an. Der Impfschutz vor der potentiell gefährlichen COVID-19 Erkrankung wiegt dies sicher auf.
Und die gefürchteten Impfschäden?
Dr. Prass: Etwas anders sieht es bei echten Nebenwirkungen, also Impfschäden, aus. Zu diesen kann es sehr selten wenige Monate nach Impfungen kommen. Seit Mitte Dezember wurden weltweit einige Millionen Menschen geimpft, hinzu kommen die Impfungen, die schon seit Monaten im Rahmen der Studien erfolgten. Ernste Folgen können zwar nicht ausgeschlossen werden. Wir können aber heute sagen, dass sie sehr selten sein müssen, so selten, dass wir sie nach Millionen Impfungen bisher nicht erkennen können. Demgegenüber steht ein mehr als 95-prozentiger Impfschutz.
Wird denn nicht zur Zurückhaltung geraten, wenn Menschen an ernsten Erkrankungen leiden?
Dr. Prass: Die große Studie, die zur Zulassung des aktuell hier verfügbaren Impfstoffs führte, berichtet über den Einsatz des Impfstoffs bei mehr als 20.000 Menschen – ungefähr genauso viele Menschen bekamen eine Scheinimpfung, wodurch sich die Wirksamkeit ermitteln ließ. Rund 20 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten eine andere ernste Erkrankung, darunter AIDS, Krebs und, wenn auch selten, die Autoimmunerkrankung Rheuma. Die Verträglichkeit und die Wirksamkeit der Impfung waren bei diesen Menschen genauso wie bei Gesunden.
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