Geschlechterunterschiede: Forschung kommt voran
Bei immer mehr organischen Erkrankungen, wie zum Beispiel Herzinfarkt, liegen zahlreiche Studien zu geschlechterspezifischen Unterschieden vor. Auch die Datenlage im Bereich der Psychiatrie hat sich in den vergangenen Jahren verbessert. „Es gibt aufschlussreiche Studien und wissenschaftliche Publikationen, die sich sowohl mit biologischen Befunden beschäftigen – etwa genetisch, hormonell, den Stoffwechsel betreffende Unterschiede bei Ursachen und auch Behandlungsstrategien psychischer Erkrankungen“, weiß Prof. Dr. Katarina Stengler, Direktorin des Zentrums für Seelische Gesundheit und Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Helios Park-Klinikum Leipzig.
Männer nehmen seltener ärztliche Hilfe in Anspruch
Bei allen psychischen Erkrankungen zeigen sich Unterschiede in der Art des Auftretens, der Häufigkeit und nicht selten der Prognose. Prof. Dr. Stengler erklärt, dass auch die Inanspruchnahme von ärztlichen Leistungen ein wesentliches Forschungsfeld geschlechterspezifischer Ansätze ist: „Es galt zum Beispiel lange die Auffassung, dass Männer seltener an Depressionen erkranken als Frauen. Dem ist nicht zwingend so.“
Wissenschaftliche Untersuchungen haben mögliche Gründe für diese falsche Annahme aufgezeigt. Demnach nehmen Männer mit Depressionen und Angststörungen medizinische Leistungen deutlicher weniger in Anspruch und suchen seltener Hilfe. Das liegt auch daran, dass Männer andere Symptome bei psychischen Erkrankungen wie Depressionen zeigen, als Frauen.
Darüber hinaus berichten Männer öfter von Symptomen, die eher typisch für organische Erkrankungen (Somatik) sind. Frauen hingegen umschreiben ihre Symptome detaillierter und bringen psychische Befindlichkeiten auch im Zusammenhang mit organischen Erkrankungen, beispielsweise bei einem Herzinfarkt, ein.
Aufgrund dessen werden Frauen oftmals zu schnell psychische Erkrankungen zugewiesen. Bei Männern geschieht dies seltener. Bei ihnen werden Symptome eher einer organischen Ursache zugeordnet.
„Klassischerweise geht eine Depression mit Symptomen einher, die vorwiegend auf Frauen bezogen sind: Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, morgendliches Tief, Schlafstörungen, auch Leistungsdefizite. Das sind alles Symptome, die für Männer eher seltener zutreffen beziehungsweise diese möglicherweise bei einer beginnenden Depression gar nicht auftreten“, berichtet Prof. Dr. Stengler. Männer sind eher gereizter, unter Umständen aggressiv, zeigen vermehrt Risikoverhalten, wie Geschwindigkeitsübertretungen beim Autofahren, oder konsumieren häufiger zu viel Alkohol.
Vielmehr sei es so, dass Männer oft aus Scham nicht in die hausärztliche Praxis gehen und sagen: ´Ich bin so traurig in letzter Zeit´. Die Ärztin erklärt: „Männer müssten, wenn sie über ihre psychische Verfassung berichten, eigentlich ganz andere Anzeichen beschreiben, die wiederum aber nicht zwingend zur Diagnose Depression, sondern direkt in die Suchtabteilung führen könnten – ein fataler Teufelskreislauf.“
Frauen sind anfälliger für psychische Erkrankungen
Prof. Dr. Stengler weist daher darauf hin, dass sich geschlechtsspezifische Faktoren wie biologische Unterschiede, Lebensbedingungen und Gesundheitsverhalten auf die Entstehung von Krankheiten und deren Verlauf auswirken. Auch psychosoziale – also soziale Gegebenheiten, die die Psyche beeinflussen, können eine psychische Erkrankung auslösen. Demnach sollten diese Aspekte bei Diagnose und Therapie berücksichtigt werden.
Darüber hinaus sollten gendersensible Risiko- und Schutzfaktoren bei einzelnen psychischen Erkrankungen gesondert betrachtet und definiert werden. Frauen sind zum Beispiel im Rahmen der hormonell bedingten Übergangsphasen (Jugendalter, Schwangerschaft, vor und nach den Wechseljahren) anfälliger für psychische Erkrankungen.
Auch Phasen beruflicher Herausforderungen oder besondere Bildungsschritte wie der Beginn eines Studiums oder Pensionierung gelten für beide Geschlechter als psychosoziale Herausforderungen. Diese gehen mit Risiken bezüglich depressiver Episoden aber auch Abhängigkeitserkrankungen einher. So erkranken Männer häufiger an Alkoholsucht, wo hingegen Frauen häufiger von Medikamentenabhängigkeit betroffen sind.
„Der Zeitraum der Entwicklung von der späten Kindheit über die Pubertät bis hin zum vollen Erwachsensein ist grundsätzlich eine Risikozeit, um Persönlichkeitsstörungen zu entwickeln – Mädchen sind oft stärker gefährdet als Jungen“, sagt die Expertin.
Selbsttötungsrate bei Männern höher als bei Frauen
In Deutschland gibt es zwischen 9.000 und 10.000 Selbsttötungen im Jahr. Dreiviertel der vollendeten Suizide werden von Männern begangen. Die Selbstmordrate ist demnach dreimal höher als bei Frauen. Der Anteil von Männern, die vorher eine bestehende Depression hatten, ist extrem hoch.
„Das sind existenzielle, lebensbedrohliche Entwicklungen, und meist, weil Männer nicht frühzeitig in Behandlung gehen“, sagt Prof. Dr. Stengler. Anders sei es bei Frauen – hier ist die Rate an Selbsttötungsversuchen signifikant höher als bei Männern. Infolgedessen ist auch die Selbstverletzungsrate durch Schnittwunden oder Vergiftungen durch Medikamente sehr hoch.
Medikamente wirken bei Frauen und Männern unterschiedlich
In der Vergangenheit waren meist Männer in klinische Studien zu Arzneimitteln eingebunden. Dosierungsempfehlungen leiteten sich aus den erhobenen Daten der männlichen Probanden ab. Doch Medikamente wirken bei Frauen und Männern unterschiedlich.
Wissenschaftliche Untersuchungen ergaben, dass Faktoren wie Körpergröße, Gewicht und Verstoffwechslungsprozesse von Arzneimitteln maßgeblich Einfluss auf die Dosierung und Wirkung haben. Demnach finden geschlechtsspezifische Unterschiede bei der medikamentösen Behandlung in der Forschung in den letzten Jahren mehr Beachtung. Seit den 1990er Jahren müssen, gemäß einer Richtlinie aus den USA, Medikamente auch bei Frauen getestet werden.
Prof. Dr. Stengler beobachtet außerdem, dass die genderspezifische Medizin auch in der Grundlagenforschung angekommen ist: „Forschende haben erkannt, dass Tierversuche ausschließlich an männlichen Tieren nicht sinnvoll sind und nicht direkt auf weibliche Menschen übertragbar sind. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit.“
Geschlechtersensible Medizin als Baustein für individuelle Diagnose und Therapie
Alle Menschen sind unterschiedlich – biologisch wie auch in ihren sozial zugewiesenen Rollen. „Wenn diese Geschlechterperspektiven in der Medizin in Ausbildung, Lehre, Studium, Versorgung und Forschung berücksichtigt werden, kann gerechte medizinische Versorgung vorgehalten werden – für jeden Menschen, individuell und bedarfsorientiert“, sagt die Ärztin. Dies sei insbesondere bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen von großer Bedeutung.