Manche Menschen wissen nicht, was es mit „Female genital mutilation“ (FGM), sprich der Genitalverstümmelung bei Frauen, auf sich hat. Helfen Sie uns.
Dr. Uwe von Fritschen: Weltweit sind etwa 200 Millionen Frauen von FGM betroffen. Die WHO schätzt, dass jährlich etwa drei Millionen Opfer hinzukommen, wobei sie davon ausgeht, dass etwa zehn Prozent der Mädchen und Frauen nach dem Eingriff versterben. Durch Migration werden auch wir in Europa zunehmend damit konfrontiert.
Haben Sie sich deshalb entschieden, das Fachbuch „Female Genital Mutilation“ gemeinsam mit den Kolleg:innen aus dem Krankenhaus Waldfriede herauszugeben?
Dr. von Fritschen: Ja, auch in Deutschland ist FGM zunehmend Thema. Wir gehen derzeit von rund 60.000 betroffenen Frauen und etwa 15.000 gefährdeten Mädchen aus. Cornelia Strunz, Roland Scherer und ich waren die erste Gruppe, die sich dieser Frauen umfassend angenommen haben und mussten feststellen, dass wir – wie alle anderen Berufsgruppen, die in die Betreuung dieser Patientinnen eingebunden sind – schlichtweg zu wenig über die komplexen Zusammenhänge wussten, geschweige denn über Behandlungsmöglichkeiten. In den Ausbildungscurricula von Ärzten, Hebammen, Sozialarbeitern oder Psycho- und Sexualtherapeuten kommt FGM so gut wie nicht vor. Diese Lücke wollten wir schließen.
Können Sie mit ein paar gesellschaftlichen Mythen aufräumen?
Dr. von Fritschen: Allgemein wird davon ausgegangen, dass vor allem in Schwarzafrika dieser Ritus praktiziert wird. Tatsächlich liegt dort zwar der Schwerpunkt, jedoch Ägypten, Jemen, Irak, Indonesien und andere Länder sind ebenfalls stark betroffen.
Es ist auch keine Frage des Glaubens, sondern der regionalen Sitten. Diese können auch innerhalb eines Landes deutlich unterschiedlich sein. Jedenfalls sind alle Glaubensrichtungen innerhalb einer Region in gleicher Weise beteiligt. Dies zeigt sich besonders daran, dass sich mit einem Wechsel des Wohnortes auch die Einstellung hierzu ändert.
Nebenbei: Es wird häufig vergessen, dass auch in westlichen Ländern bis in die 1960er Jahre die Genitalbeschneidung praktiziert wurde. Als „Heilung“ für Hysterie, Masturbation oder lesbische Neigungen.
Warum ist Ihnen persönlich das Thema weibliche Genitalverstümmelung so wichtig?
Dr. von Fritschen: Ich habe inzwischen viele dieser jungen Frauen und Mädchen kennenlernen dürfen, und sie haben mir Eindruck gemacht. Hier in Berlin, aber auch in Operations- und Aufklärungseinsätzen in Afrika hat mich ihre enorme Energie und unbedingter Wille beeindruckt, ihr Leben in die Hand zu nehmen und sich zurückzuholen, was ihnen brutal genommen wurde. FGM ist nur zu einem kleinen Teil ein medizinisches Problem. Die Frauen werden wesentlich umfassender verletzt. Es zerstört ihre Würde und Selbstwertgefühl. Die Folgen dominieren ihr Leben. Zumindest für die Frauen, die sich bei uns in Behandlung begeben, kann ich das sagen.
Was können Sie als plastischer Chirurg leisten und was bewirkt das bei betroffenen Frauen?
Dr. von Fritschen: Die Verletzungen sind unterschiedlich ausgeprägt. Abhängig hiervon legen wir in Abstimmung mit den Vorstellungen der Patientin die Behandlung fest. Verletzungen des Harntraktes oder Darms mit zum Teil ausgedehnten Fisteln, werden durch Dr. Roland Scherer oder unsere Kooperationspartner in den entsprechenden Disziplinen versorgt. Auch dies stellt zum Teil eine Herausforderung dar.
Ich führe die Rekonstruktion des Genitals durch. Hierbei geht es zum einen um die Wiederherstellung der Klitoris, wenn diese betroffen war. Zum anderen geht es um die Rekonstruktion eines möglichst unauffälligen Äußeren. Das können komplexe Eingriffe sein, teilweise aber auch relativ einfache Prozeduren, zum Beispiel, wenn lediglich die Wiedereröffnung einer verschlossenen Vulva gewünscht wird.
Der zweite, ganz wesentliche Aspekt ist die Wirkung auf die Psyche der Patientinnen. Wir erfragen vor dem Eingriff die Motivation der Betroffenen. Viele geben Schmerzen, körperliche Beschwerden oder ein unbefriedigendes oder unmögliches Sexualleben an. Daher haben wir auch eine Sexualtherapeutin im Team. Wirklich alle Frauen und Mädchen betonen, dass sie ihre Würde zurückwollen – und das ist eine unserer wichtigsten Leistungen.
Gibt es mitunter Befangenheit, weil Sie ein Mann sind?
Dr. von Fritschen: Wir versuchen die Erstberatung und die eigentliche Betreuung durch die Ärztin in unserem Team, Dr. Cornelia Strunz, sicherzustellen. Dies ist aus vielerlei Hinsicht sinnvoll. Allerdings versuche ich alle Frauen, die ich operiere, vor dem Eingriff zu untersuchen und die Behandlungswünsche abzugleichen. In der Regel wird das als hilfreich wahrgenommen. Nur selten bitten sie darauf zu verzichten. In diesen seltenen Fällen bespreche ich anhand eines Fotos den Operationsplan.
Gibt es einen Aspekt, der in der Auseinandersetzung mit dem Thema häufig falsch gemacht wird?
Dr. von Fritschen: Genitalbeschneidung ist aus unserer Sicht vollkommen unverständlich, brutal, lebensgefährlich und verantwortungslos. Es gibt auch keine Rechtfertigung für die Fortsetzung. Dennoch ist es wichtig, den Frauen nicht mit unserer Perspektive und Beteiligten mit einer Vorwurfshaltung entgegenzutreten, wenn man einen Dialog auf Augenhöhe führen möchte.
Es ist ein sehr komplexes soziokulturelles Problem, bei dem alle Akteure in ihrem Wertesystem gefangen sind.