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Genderaspekte in der Schmerzmedizin

Während Frauen unter Schmerzen Kinder gebären, leiden Männer schon bei kleinen Kratzern. Ein Vorurteil oder unterscheidet sich das Schmerzempfinden je nach Geschlecht wirklich?

20. Oktober 2023
Schmerzen beim Schmerztherapeut

Was sind Schmerzen?

"Generell handelt es sich bei Schmerzen um Empfindungen, die individuell unterschiedlich erlebt und empfunden werden", sagt Dr. Thomas Cegla, Chefarzt der Schmerzklinik Wuppertal im Helios Universitätsklinikum Wuppertal.

Die Internationale Gesellschaft zur Erforschung des Schmerzes (IASP) beschreibt Schmerz als ein Warnsymptom, das der Körper aussendet, um vor tatsächlichen oder drohenden Gewebsschäden zu warnen. Es handelt sich dabei stets um ein individuelles Erleben.

Wie gelangt der Schmerzreiz ins Gehirn?

Schmerzen entstehen, indem ein Reiz die Schmerzrezeptoren (Nozizeptoren) aktiviert. Nozizeptoren sind freie Nervenendigungen, die zu 90 Prozent in der Haut und fast jedem Gewebe, außer dem Gehirn und der Leber, zu finden sind.

Als "Frühwarnsystem" signalisieren sie dem Gehirn schädliche Einflüsse von außen, wobei sie auf thermische (Hitze, Kälte), mechanische (Druck, Dehnung) und chemische Reize (Verätzung) reagieren. Schmerzhafte Reize werden über Nervenbahnen ins Gehirn geleitet, sodass der Mensch den Schmerz wahrnimmt.

Helios Universitätsklinikum Wuppertal - Campus Barmen

Chefarzt der Schmerzklinik Wuppertal

Generell handelt es sich bei Schmerzen um Empfindungen, die individuell unterschiedlich erlebt und empfunden werden.

Gibt es geschlechterspezifische Unterschiede bei der Schmerzwahrnehmung?

Im Volksmund heißt es noch oft, Frauen sind härter im Nehmen und müssten Männer Kinder auf die Welt bringen, wäre die Menschheit längst ausgestorben. Aber was ist dran an diesem Vorurteil?

"Bei Frauen ist das Schmerzempfinden etwas erhöht, wodurch sie Schmerzreize früher wahrnehmen als Männer. Zudem empfinden sie denselben Schmerzreiz intensiver und schmerzhafter als Männer", sagt der Wuppertaler Chefarzt.

Evolutionär gesehen ist das durchaus sinnvoll, da Frauen dadurch ein bewussteres Gesundheitsverhalten und eine etwas höhere Lebenserwartung hatten. Das war vorteilhaft für das Austragen, Stillen und Aufziehen von Kindern. Aber: Da Männer Schmerzen im Vergleich oft weniger intensiv als Frauen empfinden, ist es gut, dass sie nicht gebähren müssen. Entwicklungsgeschichtlich hatten Männer zudem einen Überlebensvorteil, wenn sie Schmerzen nicht zeigten.

Dass die Geschlechter Schmerzen unterschiedlich äußern, ist teilweise gelernt und wird durch psychologische und soziale Faktoren beeinflusst. Dies ändert sich erst in der modernen Gesellschaft langsam, ist aber auch kulturellen Einflüssen unterworfen.:

  • Männer äußern häufig weniger offen Schmerzen, weil dies in vielen Kulturen als Zeichen von Schwäche angesehen wird.
  • Frauen hingegen werden öfter ermutigt, ihre Gefühle als auch Schmerzen auszudrücken.

"Leider wissen wir noch viel zu wenig über die Schmerzentstehung und -verarbeitung", weiß der Schmerzmediziner. Generell lässt sich festhalten, dass es mehr weibliche Schmerzpatienten gibt. Das kann aber zum einen damit zusammenhängen, dass die Grauzone bei Männern höher ist, weil sie seltener als Schmerzpatienten identifiziert werden und weil Frauen sensibler auf ihren Körper achten und dies eher äußern. Daher sehen wir auch häufiger Frauen mit chronischen Schmerzen in unseren Sprechstunden", berichtet Dr. Cegla.

Studien zufolge leiden Frauen bei fast allen Schmerzarten häufiger als Männer. Rückenschmerzen sind die häufigste Schmerzform unter den Geschlechtern, dicht gefolgt von Kopfschmerzen.

Während Männer eher von Clusterkopfschmerzen betroffen sind, haben Frauen oft Spanungskopfschmerzen und Migräne. Im Laufe des Lebens verändert sich jedoch der weibliche Hormonspiegel, was dazu führt, dass bei vielen Frauen im höheren Lebensalter die Migräne kann verschwinden. "Es kommt durch altersbedingte Veränderungen zu einem "Wechsel der Erkrankungen". Das heißt, die hormonell-bedingten Veränderungen – ausgenommen ist die Osteoporose – spielen bei Frauen eine nicht mehr ganz so große Rolle. Führend sind Schmerzen des Bewegungssystems.

Helios Universitätsklinikum Wuppertal - Campus Barmen

Chefarzt der Schmerzklinik Wuppertal

Bei Frauen ist das Schmerzempfinden etwas erhöht, wodurch sie Schmerzreize früher wahrnehmen als Männer. Zudem empfinden sie denselben Schmerzreiz intensiver und schmerzhafter als Männer.

Einflussfaktor Hormone

Es wird angenommen, dass Hormone das weibliche Schmerzempfinden beeinflussen, wodurch sie eine erhöhte Schmerzempfänglichkeit aufweisen. Wird eine Frau schwanger, scheinen die hormonellen Veränderungen eine Art "Schmerzschutz" zu aktivieren. Schwangere sind in dieser Zeit unempfindlicher für Schmerzreize. Dies scheint vor und während der Geburt eine Rolle zu spielen. Die Hormone Östrogen und Progesteron wirken in dieser Phase auf die Schmerzempfindlichkeit und Schmerzverarbeitung. Allerdings sind Hormone nicht die einzigen Faktoren, die das Schmerzempfinden der Geschlechter beeinflussen.

Einflussfaktor Gene

Es wird vermutet, dass genetische Faktoren ebenfalls zu geschlechterspezifischen Unterschieden im Schmerzempfinden führen. Allerdings ist noch nicht ausreichend bekannt, welche Gene sich wie auf das unterschiedliche Wahrnehmen von Schmerz auswirken.

Einflussfaktor Psyche

Die Psyche spielt ebenfalls eine größere Rolle. An einem guten Tag wird ein Schmerzreiz sehr wahrscheinlich anders empfunden als an einem schlechten Tag. "Wann uns ein Schmerz trifft, spielt eine entscheidende Rolle, denn der Körper hat die Möglichkeit, Schmerzen zu filtrieren. Das heißt, er hat eine körpereigene Schmerzverarbeitung und Schmerzhemmung, die sich durchaus trainieren lässt. Das kann aber dazu führen, dass in den Situationen, in denen beispielsweise eine Depression vorliegt oder es uns schlecht geht, der akute Schmerz ganz anders wahrgenommen wird, als wenn wir gut drauf und resilient sind", erklärt Dr. Cegla.

Welche Rolle spielt das Schmerzgedächtnis?

Chronische Schmerzen können sowohl Frau als auch Mann auf Dauer körperlich und psychisch stark belasten. Neben hormonellen, genetischen und sozialen Faktoren kommt auch dem Schmerzgedächtnis eine wesentliche Bedeutung zu. Dieses entsteht, wenn ein Schmerzreiz immer wieder auftritt, wodurch es zu Veränderungen der Signalverarbeitung im zentralen Nervensystem kommt.

Das hat zur Folge, dass sich die Andockstellen für die Botenstoffe verändern und sich die Empfindlichkeit für Schmerzreize erhöht. Veränderungen sind sowohl im Rückenmark als auch im Gehirn erkennbar. Schmerzauslösende Reize werden leichter durchgelassen und der Weg für chronische Schmerzen geebnet.

Diagnostik in der Schmerzmedizin

Zunächst muss unterschieden werden, ob es sich um eine Akutschmerz-Situation oder eine Chronifizierung handelt. Ein akuter Schmerz ist zeitlich begrenzt und oft die Folge einer Verletzung. Halten die Beschwerden längere Zeit, aber mindestens drei Monate an, spricht die Medizin von chronischen Schmerzen.

Dr. Thomas Cegla: "Es gibt standardisierte Methoden der speziellen Schmerzuntersuchung und Befragung. Der Deutsche Schmerzfragebogen (DSF) ist beispielsweise ein Tool, das wir nutzen, um die Chronifizierung zu beurteilen." Neben der Befragung (Anamnese) zeigen auch die körperliche Untersuchung und mögliche Einschränkungen, ob ein Reiz oder ein Symptom vorhanden ist, sodass eine weitergehende Diagnostik notwendig wird. Ebenso können Schmerzmediziner:innen erkennen, ob bestimmte Maßnahmen zu Schmerzlinderung oder -freiheit führen können - was jedoch eher selten der Fall ist.

Der DSF ist auch ein Instrument, mit dem geschlechterspezifische Vorurteile in der Diagnostik vermieden werden können und sowohl Frauen als auch Männer sichtbar als chronische Schmerzpatient:innen werden.

Behandlung: Multimodale Schmerztherapie

Die Erfolge der Behandlung sind am größten, wenn der Schmerz noch nicht chronisch ist. Ist das bereits der Fall, hat sich in der Praxis ein multimodales Behandlungskonzept etabliert hat. Neben der Linderung von Schmerzen ist auch die Verbesserung der eingeschränkten körperlichen, psychischen und sozialen Fähigkeiten Therapieziel.

In der individuellen Therapie arbeiten Patient:innen mit Ärztinnen und Ärzten sowie Therapeut:innen verschiedener Fachbereiche wie etwa Psychotherapie und Physiotherapie zusammen.

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Chefarzt der Schmerzklinik Wuppertal

Eigentlich braucht es eine individuelle Therapie. Die Realität sieht hingegen anders aus – das trifft Männer und Frauen.

Unterschiedliche Wirkung von Schmerzmitteln nach Geschlecht

Medikamente, wie beispielsweise Schmerzmittel, können sowohl bei Frauen als auch Männern eine unterschiedliche Wirkung haben. Denn bereits die genetischen Unterschiede, die noch nicht ausreichend erforscht sind, haben Auswirkungen auf die Medikamentenverträglichkeit.

Bis ins Jahr 1988 fanden die meisten Medikamentenstudien ausschließlich an Männern statt, weil man bei ihnen weder eine Schwangerschaft noch Einflüsse durch Hormonschwankungen in Betracht ziehen muss. Ein Widerspruch zur klinischen Praxis, in der Personen weiblichen Geschlechts ebenfalls Medikamente einnehmen. Seit den 90ger-Jahren sind auch Frauen in Zulassungsstudien enthalten, allerdings äußern sich die geschlechterspezifischen Unterschiede nicht in den empfohlenen Dosierungen. Während Frauen häufiger von Nebenwirkungen betroffen sind, bauen Männer Medikamente oft schneller ab.

Aber nicht nur das biologische Geschlecht kann Einfluss auf die Wirkung von Schmerzmitteln haben, auch das Alter, das Körpergewicht, die Muskelmasse und der Stoffwechsel können unter anderem die Pharmakotherapieverträglichkeit beeinflussen.

Dr. Thomas Cegla: "Eigentlich braucht es eine individuelle Therapie. Die Realität sieht hingegen anders aus – das trifft Männer und Frauen. Bei Frauen ist es schwieriger, weil hier eine Anpassung anhand des Zyklus stattfinden sollte. Um dies etwas einzufangen, lautet die Empfehlung für beide Geschlechter, dass man langsam niedrigdosiert anfangen und dann in Abhängigkeit von der Wirkung die Dosierung anpassen sollte. Dazu sollte man beobachten, wie die Wirkung über den Monat verteilt ist, also ob sie gleichbleibend ist oder eine Zyklusabhängigkeit besteht und die Dosierung angepasst werden muss. Es zeigen sich hier auch ganz klar, die Grenzen der Pharmakotherapie auf."

Fazit: Geschlechtersensible Schmerzmedizin noch am Anfang

Es wird deutlich, dass Gendermedizin auch auf dem Gebiet der Schmerzmedizin noch in den Kinderschuhen steckt. Positiv anzumerken ist allerdings, dass geschlechterspezifische Unterschiede immer mehr in den medizinischen Fokus und in die Forschung Einzug halten.

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