Herr Dr. Korebrits, welche Emotionen lösen die Bilder und Berichte vom Krieg in der Ukraine bei Kindern und Jugendlichen aus, vor allem, wenn sie selbst solche Gewalt noch nie erlebt haben?
Dr. Andries Korebrits: Das hängt stark vom Alter der Kinder und Jugendlichen ab. Kleinere, die solche Bilder vielleicht noch nie gesehen haben, werden vieles von dem, was sie sehen, mitunter noch nicht verstehen. Bei Größeren und Jugendlichen hingegen kann man voraussetzen, dass diese Bilder für sie nicht neu sind.
Was beide Gruppen allerdings eint, ist eine Angst, die sich aus der Nähe des Geschehens speist. Ganz anders als bei Kriegen in Afghanistan, dem Jemen oder in Syrien sind diese Geschehnisse realer, da sie “gleich um die Ecke”, hier bei uns in Europa stattfinden.
Besteht die Gefahr, dass Kinder von den Bildern, die sie im Fernsehen oder im Internet sehen, traumatisiert werden?
Dr. Korebrits: Nein. Ein Trauma entsteht erst dann, wenn man solch eine Kriegshandlung selbst miterlebt hat. In unserer Klinik betreuen wir hin und wieder auch Kinder aus Afghanistan oder Syrien. Für sie ist ein solches Erlebnis sicher traumatisierend. Die Berichte im Fernsehen sind aktuell noch nicht so schockierend oder bedrohlich. Das liegt aus meiner Sicht auch an der moderaten Berichterstattung.
Gleichwohl ist es wichtig, die Wahrheit nicht zu verschweigen. Gefährlich wird es allerdings bei Fake-News, wie sie auch im Ukraine-Konflikt nicht ausbleiben. Ist dieses Foto wirklich dort gemacht worden, wurde dieser Film wirklich in Kiew gedreht oder stammt er aus einer anderen Zeit, von einem anderen Ort? Das zu unterschieden ist mitunter schwer und stellt schon Erwachsene vor Probleme. Für Kinder ist diese Hürde des Differenzierens noch einmal ungleich höher.
Wie soll man Ihrer Ansicht nach Kindern den Krieg erklären und ihre Ängste mindern?
Dr. Korebrits: Man muss ehrlich zu ihnen sein und sollte nichts verschweigen. Wer ihnen die Wahrheit vorenthält, riskiert, dass sie sich ihre Informationen anderswo holen, ohne die richtige Einordnung. Das würde sie viel mehr verunsichern.
Gleichwohl rate ich, das Maß auch beim ausführlichen Erklären nicht zu überschreiten. Nicht minder wichtig ist es, bei den Gesprächen in der Familie den Fokus auch auf andere Themen des Tages zu legen. Wer den ganzen Tag nur vom Krieg und seinen Folgen hört, muss unweigerlich Angst bekommen. Man kann Kindern durchaus auch sagen, dass nicht nur sie, sondern auch Erwachsene sich Sorgen machen, dass die Gefahr aber noch nicht so extrem ist, in Panik zu verfallen.
Jugendliche hingegen stehen durchaus für intensivere Gespräche bereit. Hier ist es sinnvoll, sich auch mit den Hintergründen der kriegerischen Handlung auseinanderzusetzen, etwa über die gemeinsame Geschichte und Sprache beider Staaten zu reden.
Seit der Konflikt eskaliert, prasseln permanent Bilder über Krieg und Flüchtlingswellen im Fernsehen oder im Internet auf uns ein. Besteht dadurch die Gefahr einer Reizüberflutung?
Dr. Korebrits: Natürlich, das ist nicht auszuschließen. Man muss deshalb aufpassen, dass Kinder und Jugendliche nicht zu oft mit solchen Bildern und Berichten konfrontiert werden. Kindersender der öffentlich-rechtlichen Sender etwa berichten zwar zum Thema, zeigen dabei aber nur dezidiert Bilder.
Einmal mehr ist es jetzt wichtig, dass Eltern den Fernsehkonsum und das Internetverhalten ihrer Kinder im Blick behalten. Zugleich sollten sie für Ablenkung sorgen: der aufkommende Frühling bietet durchaus Gelegenheit, einmal mehr an die frische Luft zu gehen und auf andere Gedanken zu kommen.
Besteht die Gefahr, dass Bilder aus Kriegsgebieten Kinder und Jugendliche zu Gewaltverhalten animieren?
Dr. Korebrits: Nein, dafür braucht es wesentlich stärkerer Reize. Diese Gefahr ist bei intensivem Videospiel deutlich größer. Aber auch hier muss erst etliches an Zeit vergehen, ehe die Grenze zur Gewaltanwendung überschritten wird.
Wie stark ist das Unrechtsbewusstsein bei Kindern und Jugendlichen schon ausgeprägt?
Dr. Korebrits: Das ist durchaus groß. Kinder haben ohnehin einen starken Sinn für Gerechtigkeit. Das Gefühl, dass andere Menschen leiden, geht ihnen nah. Nicht selten sind Kinder an den Geschehnissen daher emotional näher dran als Erwachsene. Was aber auch bedeutet, dass Kinder mitunter schneller Ängste aufbauen als wir Erwachsenen.
Dennoch haben Kinder und Jugendliche ein Recht darauf, auch bei diesem Thema ernst genommen zu werden. Kriege sind in ihrer Struktur kompliziert und haben oft eine lange Vorgeschichte. Damit Kinder und Jugendliche den Krieg und seine Auswirkungen jedoch verstehen, begreifen und für sich verarbeiten können, helfen mitunter einfache, aber stets ehrliche Erklärungen. Wer das umsetzt, gibt Kinder den ihnen zustehenden Respekt und nimmt ihnen gleichsam etwas Angst.