Kinder und Jugendliche, die sexuell missbraucht oder misshandelt wurden, leiden oft ein Leben lang an den seelischen Folgen. In Europa leben rund 190 Millionen Kinder unter 18 Jahren. Davon haben circa 18 Millionen sexuellen Missbrauch, 44 Millionen körperliche und 55 Millionen psychische Misshandlung erfahren.
Besorgniserregend ist, dass etwa 90 Prozent aller Fälle unentdeckt bleiben. Im medizinischen Kinderschutz gilt die interdisziplinäre Leitlinie Kindesmisshandlung, -missbrauch und -vernachlässigung der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.) als notwendiger Handlungsleitfaden. Im Interview mit Dr. Beate Schwarz stellen wir die wichtigsten Fragen.
Warum ist das Thema Kinderschutz im Krankenhaus so wichtig?
Dr. Beate Schwarz: Kindeswohlgefährdung findet tagtäglich statt, häufig innerhalb der Familie oder im näheren Bekanntenkreis. Umso wichtiger ist es, im Akutfall Kinder und Jugendliche zunächst aus der potentiell bedrohlichen Situation herauszunehmen und vor erneuter Misshandlung zu schützen.
Damit gewinnt man Zeit, um nach erster Risikoeinschätzung ohne Hektik entsprechende interprofessionelle Diagnostik und gegebenenfalls Therapie durchzuführen und zu planen.
Wie wichtig sind Netzwerke im Kinderschutz?
Dr. Beate Schwarz: Es ist essentiell, mit den sogenannten Frühen Hilfen des Jugendamts, der Polizei und Bildungseinrichtungen zusammenzuarbeiten, Netzwerke zu bilden und zu leben. Nur so können Fehleinschätzungen vermieden und gemeinsam mit den Familien agiert werden.
Ist die Zahl von Kindeswohlgefährdungen während der Corona-Zeit gestiegen?
Dr. Beate Schwarz: Zahlen und Studien belegen, dass die Fälle in den letzten zwei Jahre angestiegen sind. Statistisch wird allerdings immer nur das sogenannte „Hellfeld“ erfasst, also die Fälle, die gemeldet und geprüft wurden.
Das „Dunkelfeld“ ist beträchtlich höher.
Welche Anzeichen gibt es für Kindeswohlgefährdung?
Dr. Beate Schwarz: Es gibt leider nicht immer spezifische Merkmale oder Signale. Bestimmte Verletzungsmuster oder auch Verhaltensauffälligkeiten können hinweisgebend sein.
Wichtig ist, die Schilderungen von Kindern und Jugendlichen ernst zu nehmen und ihnen Glauben zu schenken.
Was tun Sie bei einem Verdacht?
Dr. Beate Schwarz: Zunächst Ruhe bewahren, denn blinder Aktionismus schadet nur. Die standardisierten Handlungsanweisungen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung von Helios schaffen Sicherheit in den Abläufen. In jeder Helios Kinderklinik gibt es eine Kinderschutzgruppe.
In den anderen Helios Kliniken ohne Pädiatrie, die aber auch Kinder und Jugendliche behandeln, gibt es Kinderschutzbeauftragte, die die Maßnahmen koordinieren.
Laut Gesetz ist in allen Kliniken, die Kinder und Jugendliche behandeln, die Verankerung von Schutzkonzepten verpflichtend. So hat unsere AG Kinderschutz ein Schutzkonzept entwickelt, das Helios-weit als Konzernregelung verbindlich ist.
An wen kann man sich bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung wenden?
Dr. Beate Schwarz: An das zuständige Jugendamt. Dort besteht auch die Möglichkeit, anonym, mit einer erfahrenen Fachkraft, Sachverhalte zu besprechen, die verdächtig erscheinen.
Für Kinder und Jugendliche sind vor allem Haus- und Kinderärzte die ersten Ansprechpartner, häufig sind Lehrer oder Erzieherinnen Vertrauenspersonen. Im Kinderschutz braucht es vielfältige, umfassende Hilfen für betroffene Familien, welche untereinander abgestimmt werden müssen.