Prof. Dr. Prof. h. c. Jürgen Kleinstein, Leiter des Departments Mikrochirurgie in der Helios Klinik Köthen, spricht im Interview darüber, wann eine künstliche Befruchtung klappen kann, welche Bedingungen erfüllt sein sollten und auch, wo der Medizin Grenzen gesetzt sind.
Wie erklären Sie sich, dass immer mehr künstliche Befruchtungen in Anspruch genommen werden?
Prof. Kleinstein: Es sind drei Gründe, die für die zunehmende Inanspruchnahme der künstlichen Befruchtung verantwortlich sind. Der erste Grund liegt darin, dass sich das gesellschaftliche Verhalten von Paaren in der künstlichen Befruchtung widerspiegelt. Frauen sind bei der Geburt ihres ersten Kindes im Durchschnitt 30,5 Jahre alt – bezogen auf das Jahr 2021. Es ist davon auszugehen, dass sich Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch, die auf künstliche Befruchtung angewiesen sind, in einem höheren fortpflanzungsbiologischem Alter befinden. Jahr für Jahr steigt das Alter der Frauen im Programm der künstlichen Befruchtung. Aktuell beträgt es im Durchschnitt 35,7 Jahre. Es ist also das fortgeschrittene fortpflanzungsbiologische Alter, welches zu assistierten Fortpflanzungstechniken führt.
Diese Tendenz führt unmittelbar zum zweiten Grund. Betreuende Frauenärztinnen und Frauenärzte wissen um das höhere Alter ihrer Kinderwunsch-Patientinnen. Sie zögern nicht, insbesondere bei fortgeschrittenem Alter, betroffene Frauen in das nächste Kinderwunschzentrum zu überweisen, damit nicht wertvolle Zeit verstreicht.
Der dritte Grund für den Zuspruch der künstlichen Befruchtung, ist auch der mit der größten Bedeutung. Es ist die Subfertilität, also die eingeschränkte Zeugungsunfähigkeit des Mannes, die unter allen Allein-Indikationen mit 41 Prozent die Hauptursache für Kinderwunschbehandlungen darstellt. Aufgrund limitierter Erfolge der medikamentösen Therapie bei Subfertilität des Mannes, ist nur die Inanspruchnahme der assistierten Fertilisation – hier die Intercytoplasmatische Spermainjektion (ICSI) – erfolgsversprechend.
Kann jeder Kinderwunsch in Erfüllung gehen oder sind der Medizin auch Grenzen gesetzt?
Prof. Kleinstein: Bei der natürlichen Fortpflanzung verfügen Frauen über ihr höchstes Fortpflanzungspotenzial im Alter von 20 bis 25 Jahren. Ergebnisse der künstlichen Befruchtung weisen ebenfalls eine deutliche Altersabhängigkeit auf.
Laut DIR, Deutsches IVF-Register, konnten Frauen im Jahr 2020 im Alter von 25 bis 32 Jahren mit einer Schwangerschaftswahrscheinlichkeit von 40 Prozent pro Embryotransfer* rechnen. Ab dem 33. Lebensjahr gingen die Schwangerschaftsraten Jahr für Jahr zurück. Ab 41 Jahren unterschreiten sie die 20 Prozent-Marke, um mit 45 Jahren nur noch bei 2,6 Prozent pro Embryotransfer zu liegen.
Hintergrund des Altersfaktors ist die starke Abnahme heranreifender Eizellen und deren zunehmende Abweichung vom normalen Chromosomensatz. Auch für Männer existieren Grenzen im Programm der künstlichen Befruchtung, zwar kommt die ICSI-Technik mit nur wenigen – auch unbeweglichen Spermien aus, aber die vollständige Abwesenheit von Spermien im Ejakulat und die Unmöglichkeit reife Spermien aus dem Hoden zu isolieren, setzt auch der assistierten Fertilisation Grenzen.
*Beim Embrytransfer werden die befruchteten Eizellen zurück in die Gebärmutter gesetzt.
Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, um sich künstlich befruchten zu lassen?
Prof. Kleinstein: Die Richtlinien über künstliche Befruchtung, die zuletzt am 16.12.2021 aktualisiert wurden, geben die Vorgehensweise an. Für die betroffenen Paare ist entscheidend, dass sie das 25. Lebensjahr beendet haben und die Frau noch nicht das 40. Lebensjahr, der Mann nicht das 50. Lebensjahr, abgeschlossen haben.
Gesetzlich Versicherte müssen nach individueller ärztlicher Beratung über medizinische, psychische und soziale Aspekte der künstlichen Befruchtung einen Behandlungsplan bei ihren Krankenkassen einreichen. Dafür stehen Formblätter seitens der zuständigen Ärztekammer zur Verfügung. Kinderwunschzentren sind im Erstellen dieses Plans geübt und behilflich. Neben persönlichen Daten der Patienten sind die Indikation, Behandlungsmethode, bisher durchgeführte Zyklen und voraussichtliche Kosten Bestandteil der Antragsstellung. Nur bei verheirateten Paaren sind die Krankenkassen verpflichtet, Kosten zu übernehmen.
In diesem Zusammenhang sind Begrenzungen in der Anzahl der Zyklen zu beachten. So werden unter den genannten Voraussetzungen Inseminationen* im Spontanzyklus bis zu achtmal, im stimulierten Zyklus bis zu dreimal, die In-vitro-Fertilisation (IVF) wie auch die Intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) je bis zu dreimal unterstützt. Nach Eintritt einer Schwangerschaft wirkt sich diese nicht negativ auf die Anzahl der „verbrauchten“ Zyklen aus, eine Geburt berechtigt zur erneuten Antragstellung vollumfänglich für die Geburt eines weiteren Kindes.
*Bei der Insemination, also Samenübertragung bringt die Ärztin oder der Arzt befruchtungsfähige Samenzellen in die Gebärmutter der Frau ein, sodass diese die Eizelle schneller und in größerer Menge erreichen.
Welche Gründe können einen unerfüllten Kinderwunsch verstärken?
Prof. Kleinstein: Nicht immer lässt sich ein Grund für den unerfüllten Kinderwunsch finden, dann spricht man von idiopathischer Sterilität.
Überwiegend führt die intensive Diagnostik bei Mann und Frau zur Ursachenaufklärung. So kann der Eisprung ausbleiben, wenn Frauen an einem polyzystischen Ovar-Syndrom, kurz PCOS, leiden. Gerade junge Frauen sind auffälliger für aufsteigende Infektionen, in der Folge können verschlossene Eileiter resultieren.
Die Endometriose ist mit circa zehn Prozent im fortpflanzungsfähigen Alter zur erwarten. Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch, schmerzhaften Monatsblutungen und deren Mütter auch an Endometriosen litten, haben ein deutlich erhöhtes Vorkommen von 50 bis 70 Prozent für diese Erkrankung. Neben Endometriose haben Myome* mit einem Vorkommen von 50 Prozent, also bei jeder zweiten Frau, zahlenmäßig die größte Bedeutung. Insbesondere haben Myome, die die Gebärmutterschleimhaut berühren, einen negativen Einfluss auf den Eintritt und Fortbestand einer Schwangerschaft.
Auch durch die Inanspruchnahme der künstlichen Befruchtung können diese Pathologien nicht vollständig überwunden werden, zum Teil haben sie den gleichen negativen Einfluss wie bei der natürlichen Fortpflanzung auch und erst deren Beseitigung ermöglicht den Erfolg.
Wenn Männer Einschränkungen im Spermiogramm aufweisen, sind Behandlungserfolge durch Einnahme von Medikamenten begrenzt, sodass nur die künstliche Befruchtung erfolgsversprechend ist.
*Myome sind gutartige Wucherungen innerhalb der Muskelschicht der Gebärmutter.
Was macht eine Kinderwunsch-Betreuung mit der Psyche und wie unterstützen Sie die Paare?
Prof. Kleinstein: Ungewollte Kinderlosigkeit kann mit Hilflosigkeit, gegenseitigen Schuldzuweisungen, Erfolgsdruck bis hin zu Depressionen einhergehen. Dabei sind ungewollt kinderlose Paare per se nicht häufiger psychisch auffällig, es sind die Umstände, wie Zeitdruck, Unvereinbarkeit von Therapie und Beruf, Störungen im Sexualleben, die krank machen. Gerade bei der künstlichen Befruchtung werden die psychischen Belastungen am stärksten empfunden, ausbleibender Erfolg kann Depressionen auslösen.
Ärztinnen und Ärzte, die Kinderwunschbehandlung betreiben, sind in der psychosomatischen Grundversorgung geschult und wissen mit den Belastungen der Patienten umzugehen. Allerdings kann nicht erwartet werden, dass adäquate, kompetente psychologische Betreuung die Schwangerschaftschancen erhöht, vielmehr geht es um Abbau von Stress und Versagensängsten und schlussendlich um Vermeiden des vorzeitigen Ausstiegs aus der Kinderwunschbehandlung, weil man sich den Belastungen nicht mehr gewachsen fühlt.
Eine persönliche positive Erfahrung ist die Einhaltung von Prinzipien des „tender loving care“*. Diese zugewandte Fürsorge hilft insbesondere Frauen, weil es dadurch eine Instanz gibt, die man in aller Not kontaktieren kann.
*Beschreibt eine besonders warmherzige und fürsorgliche Betreuung der Schwangeren, um Sorgen und Ängste zu nehmen.
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