Frau Prof. Stengler, gibt es etwas, wovon Sie sich partout nicht trennen können?
Das sind vor allem Dinge, die mir emotional wichtig sind, die einen persönlichen Background haben. Sie erinnern mich an meine Eltern und Großeltern. Dazu gehören aber auch Bücher, die mir viel bedeuten – und der Klassiker: Schuhe.
Ab wann geht eine Sammelleidenschaft über in zwanghaftes Sammeln? Wo befindet sich aus Ihrer Sicht die Grenze?
Eines möchte ich erst einmal vorab stellen: Das Sammeln ist eine der ältesten und zugleich wichtigsten und gesunden Eigenschaften von Menschen. Der Fortschritt von heute wäre nicht möglich, wenn Menschen Dinge nicht sammeln und zusammentragen würden. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Kunst. Wo wären wir heute, wenn Sammler Kulturgüter, die wir in Museen bewundern, nicht zusammengetragen hätten? Wo wäre all das Wissen, das heute viele Bücher füllt?
Wie ist das zu verstehen?
Es gibt durchaus Menschen, die sammeln Häuser, teure Autos, Uhren oder andere wertvolle Gegenstände. Damit symbolisieren sie eine gewisse Macht, Präferenz oder Eitelkeiten. Was die einen als krank definieren, fundamentiert in bestimmten sozialen Schichten den Status. Menschen können durch das Anhäufen von Dingen persönliche Maßstäbe setzen, die in bestimmten sozialen Zusammenhängen akzeptierter sind als in anderen. Ein Wohlhabender, der 3.000 Paar Sneakers sammelt, macht grundsätzlich nichts anderes als ein armer Mensch, der 3.000 kaputte Schuhe in seiner zu kleinen Wohnung aufbewahrt. Nur, dass man es bei dem einen akzeptiert, der andere aber als krank eingestuft wird.
Ab wann wird beim Sammeln und Horten jedoch ein krankhaftes Stadium erreicht?
Ab dem Zeitpunkt, wo ich soziale Normen und Grenzen überschreite. Wenn das, was gesammelt wird, sozial definierter Müll ist, dessen Aufbewahrung Mitmenschen belästigt oder er das eigene Wohlbefinden oder das von anderen einschränkt, dann ist die Grenze zum Krankhaften überschritten. In dem Fall müssen soziale Regelkreise eingreifen oder das Gesundheitssystem.
Schlummert die Gefahr, einen Sammelzwang zu entwickeln, in uns allen?
So wie alles und jedes Ding gesammelt werden kann, kann auch jeder Mensch davon betroffen sein.
Wenn ich selbst merke, dass eine kritische Schwelle überschritten wurde, wie gehe ich dann vor?
Wenn sich normales Sammeln in eine Phase begibt, die den sozialen Kontext gefährdet oder sich hygienische Probleme auftun, sind die Betroffenen leider nicht in der Lage zu sagen: Das wächst mir über den Kopf. Vielmehr ziehen sie sich zurück. Sie realisieren ihre Situation zwar, suchen sich aber nur in den seltensten Fällen Hilfe. Vielmehr sind es Angehörige, die zu uns kommen und um Unterstützung bitten.
Was raten Sie Angehörigen, die zu Ihnen kommen?
Sie sollten an erster Stelle Vertrauen aufbauen. Die Betroffenen sehen nicht ein, dass ihr Verhalten krankhaft ist und sie sich optional von Dingen trennen müssen. Was man auf keinen Fall tun darf, und das empfehlen leider auch völlig fehl geleitet manche Therapeut:innen, ist das sofortige Entrümpeln der Wohnung. Denn das signalisiert: Wenn ich Hilfe annehme, nimmt man mir alles weg oder weist mich sogar in die Klinik ein.
Die Helfenden müssen zunächst verstehen, dass es nicht darum geht, Dinge wegzunehmen. Es geht vielmehr darum, einen therapeutischen Prozess einzuleiten, der langwierig sein kann und sehr sensibel ist. Der Beginn des Sammelns ist nicht selten mit einem traumatischen Ereignis verknüpft, einem Verlust, einem gravierenden Einschnitt im Leben. Gegen den Willen des Betreffenden etwas wegzuschmeißen ist daher ein falscher Ansatz.
Wenn jemand mit einem schweren Verlauf zu Ihnen in die Klinik kommt, wie gehen Sie dann vor?
Da die meisten dieser Patientinnen und Patienten den Zeitpunkt verpasst haben, an dem es noch möglich war, Abstand zur krankhaften Schwelle des Sammelns zu finden, werden sie nicht selten gegen ihren Willen eingewiesen. Zum Teil von ärztlichen Kolleginnen und Kollegen, der Polizei oder anderen staatlichen Kräften. Oftmals wurden sie aus ihrer Wohnung verwiesen und sind demzufolge bei uns in großer Angst, müssen gewaltsam bei uns gehalten werden. Das sind natürlich die schlimmsten Verläufe. Sobald es möglich ist, suchen wir das gemeinsame Gespräch, um auch die Ursachen des Verhaltens zu ergründen. Gleichsam nehmen wir Kontakt zu Angehörigen oder Vermietern der Wohnung auf, um das Entsorgen der Dinge nicht sofort umzusetzen. Das Entsorgen muss kommen, keine Frage, aber stets eingebettet in den therapeutischen Prozess.
Und wie gehen Sie mit leichteren Fällen eines Messie-Syndroms um?
Auch das gibt es natürlich, dass Menschen zu uns kommen und sagen, ich habe das nicht mehr im Griff, wie komme ich davon weg. Hier gilt ebenso, in erster Linie mittels Verhaltenstherapie Ursachenforschung zu betreiben. Seit wann mache ich das, wie hat das angefangen, welche Lebenssituation gab den Auslöser? Auch dieser Prozess braucht Zeit, wenn er zum Erfolg führen soll.
Ist Minimalismus das gesunde Gegenteil des Sammelzwangs?
Keineswegs. Wer sich von allem befreit und meint, nichts zu brauchen, verfolgt auch den Anspruch, der Beste mit seiner Haltung zu sein. „Ich häufe das Nichts an.“ Es ist der gleiche übersteigerte Mechanismus, nur entgegengesetzt der Nulllinie. Dieser Mechanismus ist weder nützlich noch sinnvoll und hat auch nichts mit verbesserter Lebensqualität zu tun. Im Gegenteil. Man trennt sich dabei nicht nur von Dingen und Sachen, sondern auch von sozialen Bezügen und einem Stück eigener Vergangenheit. Gleichzeitig gibt man den Bezug zu einer Beziehung auf. Einen zweiten Stuhl in der Wohnung zu haben, hat auch etwas mit Kultur zu tun, etwa um sich einmal einen Gast einzuladen oder entspannt die Füße hoch legen zu können.
Wer aufräumen will: Welchen Zeitpunkt sollte er wählen, welcher Moment wäre hierfür perfekt?
Jeder! Man kann zu jedem Zeitpunkt anfangen, Veränderungen herbeizuführen. Auf keinen Fall auf die lange Bank schieben oder einen Stichtag in weiter Ferne suchen. Erfolg stellt sich ein, wenn der Wille zur aktiven Veränderung sofort umgesetzt wird.