Was ist Tinnitus?
"Beim Tinnitus handelt es sich um Ohrgeräusche, die permanent oder über einen längeren Zeitraum immer wieder gehört werden", sagt Dr. Christian Werner, Leitender Oberarzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde am Helios Amper-Klinikum Dachau.
Tinnitus ist keine eigenständige Krankheit. Die Geräusche entstehen häufig im Innenohr und sind Symptome des auditorischen Systems, wozu die Ohren, die Hörbahnen und hörverarbeitende Hirnareale zählen.
Tinnitus wird unterschieden in
- akut: Setzt meist plötzlich ein und geht oft mit einem Druckgefühl im Ohr und/oder einer Hörminderung einher. Er kann einseitig oder beidseitig auftreten.
- chronisch: Die Ohrgeräusche und Beschwerden dauern länger als drei Monate an.
- subjektiv: Es gibt weder eine äußere noch innere Geräuschquelle für den Tinnitus. Für andere Menschen lässt sich das Ohrgeräusch in Untersuchungen nicht hörbar machen.
- objektiv: Körpereigene Geräusche werden als Ton wahrgenommen. Dabei handelt es sich zum Beispiel um Strömungsgeräusche des Blutes, die durch verengte Blutgefäße entstehen. Betroffene nehmen das Ohrgeräusch oft als pulsierend wahr. Diese werden während der Untersuchung auch von Ärztinnen und Ärzten gehört.
In Europa und den USA leiden circa 25 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal in ihrem Leben an einem Ohrgeräusch. Ein dauerhaftes Ohrgeräusch haben nur rund zehn bis 15 Prozent. In Deutschland sind laut der Deutschen Tinnitus-Liga rund 2,7 Millionen Menschen von Tinnitus betroffen. Die Anzahl der Fälle steigt mit höherem Lebensalter über 65 Jahre. Frauen und Männer sind gleichermaßen häufig betroffen.
Kann ich Tinnitus vorbeugen?
Wenn Sie es gar nicht zu ungewollten Ohrgeräuschen kommen lassen möchten, können Sie einige vorbeugende Maßnahmen beachten:
- Schützen Sie Ihre Ohren mit Ohrstöpseln oder Gehörschutz, zum Beispiel bei Konzerten.
- Meiden Sie dauerhaften Lärm über 85 Dezibel, etwa durch zu laute Musik oder Maschinen.
- Reduzieren Sie Stress und erlernen Sie Methoden des Stressmanagements.
- Hören Sie mit dem Rauchen auf, da Nikotin die Gefäße schädigt und verengt.
- Gehen Sie bei einem Hörverlust oder ersten Anzeichen eines Tinnitus rechtzeitig zur HNO-Praxis.
Ursachen von Tinnitus
Eine alleinige Ursache für Tinnitus gibt es nicht – es handelt sich um eine spontane oder unnormale Aktivität im Hörsystem. Zu den Hauptrisikofaktoren zählen Lärmbelästigung, Hörverluste und psychische Stressoren, wie Überforderung, Angst/Sorgen und Leistungsdruck.
In den meisten Fällen entsteht Tinnitus durch eine krankhafte Veränderung der Schallverarbeitung im Innenohr. In seltenen Fällen können auch Veränderungen des Schalltransports im Mitterohr oder Fehler bei der Verarbeitung des Schalls in den Hörnerven oder der Hörbahn auftreten. In mehr als 90 Prozent der Fälle geht Tinnitus mit einem messbaren und relevanten Hörverlust einher.
Auch akustische Knalltrauma (Feuerwerk oder Schuss) können einen Tinnitus auslösen, wenn das Gehör kurzzeitig einer extremen Lärmquelle ausgesetzt ist.
Tinnitus kann auch als Folge von Erkrankungen des Mittel- oder Innenohres sowie des Hörnervs entstehen, etwa:
- Verknöcherung der Gelenke des Gehörnervs
- chronische Mittelohrerkrankungen
- Innenohrschwerhörigkeit
- Morbus Menière (Drehschwindel mit Tieftonschwerhörigkeit)
- Vestibularis-Schwannom (gutartiger Tumor auf dem Hör- und Gleichgewichtsnerv)
Symptome von Tinnitus
"Betroffene beschreiben ein permanentes Geräusch in unterschiedlicher Ausprägung in einem oder beiden Ohren. Meist hören sie ein Pfeifen, Brummen, Rauschen oder Zischen. Zudem werden die Ohrgeräusche stärker in Situationen wahrgenommen, in denen die Betroffenen zur Ruhe kommen wollen", sagt Dr. Werner.
Begleiterkrankungen von Tinnitus
Bei der Entstehung eines chronischen Tinnitus können Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) vorhanden sein, die im Rahmen der Behandlung ebenfalls therapiert werden sollten. Denn nicht allen Betroffenen gelingt es, das Ohrgeräusch zu filtern, wodurch es häufig zu Einschränkungen im Alltag und der Lebensqualität kommt.
Nimmt das Geräusch einen „krankmachenden Charakter“ an, können daraus weitere Begleiterscheinungen resultieren. Dazu zählen unter anderem:
- Konzentrationsstörungen, Depression
- Ein- und Durchschlafstörungen, sozialer Rückzug
- begleitende Schwerhörigkeit aber auch krankhafte Geräuschüberempfindlichkeit (Hyperakusis)
- Kopfschmerzen
- Ohrenschmerzen (Otalgie),
- Muskelverspannung der Kiefer- und Kaumuskulatur
- Störung des Kauapparates (Craniomandibuläre Dysfunktion=CMD)
Diagnostik von Tinnitus
Dr. Christian Werner: "Im Rahmen der HNO-ärztlichen Untersuchung führen wir nach Erheben der genauen Krankengeschichte eine Untersuchung mittels Ohrmikroskopie durch. Hinzu kommt eine komplette audiometrische Diagnostik und die audiometrische Tinnitusbestimmung."
Die Tinnitus-Untersuchungen im Überblick
Ohrmikroskopie: Dabei wird mit einem Ohrmikroskop das Außenohr und Trommelfell untersucht. Auf diese Weise wird festgestellt, ob das Trommelfell nicht mehr intakt ist oder ein Schmalzpfropf das störende Ohrgeräusch verursacht.
Hörtest: Bei der audiometrischen Diagnostik wird die Hörleistung des Innenohrs überprüft. Der Hörtest dient zur Feststellung einer möglichen Hörminderung, die auch mit einem Ohrgeräusch assoziiert sein kann.
Hirnstammaudiometrie (BERA): Dies ist ein spezieller Hörtest, um die Funktion des Hörnervs zu überprüfen und mögliche Hörstörungen hinter der Hörschnecke (retrocochleär) aufzudecken.
Gleichgewichtsprüfung: Untersuchung, wie gut das Gleichgewichtsorgan (Vestibularisorgan), welches sind im Innenohr befindet, funktioniert. Durch thermische Reizung mit warmem oder kaltem Wasser oder warmer oder kalter Luft wird das Vestibularorgan gereizt, um zu überprüfen, ob es seitengleich reagiert oder eine Differenz vorhanden ist, die für eine Innenohrstörung im Sinne einer Vestibulopathie spricht. Der Ein-Bein-Stand und der Tretversuch nach Unterberger dienen zur grob neurologischen Vestibularisdiagnostik.
Otoakustische Emission (OAE): Die Aktivitäten der Haarzellen des Innenohres lassen sich durch spontane Schallabstrahlung (OAE) aus dem Innenohr messbar machen. Die OAE dient dazu, Schäden an den äußeren Haarzellen zu diagnostizieren.
Fragebögen: Die Tinnitusbelastung und daraus resultierende Einschränkung im Alltag werden mit Tinnitus-Fragebögen (TF), etwa nach Goebel und Hiller, erfasst. Dies dient auch zu Einordnung des Schweregrades der Ohrgeräusche.
Weitere Untersuchungen: Um Tumore am Hör- und Gleichgewichtsnerv auszuschließen, kann bei einseitigen Ohrgeräuschen eine Kernspintomographie des Kopfes sinnvoll sein. Aufbauend auf die genannten Untersuchungen ist je nach Begleiterkrankung eine weiterführende Diagnostik bei anderen Ärztinnen und Ärzten, wie der Neurologie, Zahnmedizin oder auch Psychologie nötig.
Behandlungsmöglichkeiten von Tinnitus
"Leider gibt es nicht DIE Therapie für Tinnitus. Daher hängt die Behandlung immer von der Ursache ab. Ist diese erkannt, wird sie behandelt. Schwierig wird es, wenn sich die Ursache nicht feststellen lässt", sagt Dr. Werner.
Steht der Tinnitus etwa in Zusammenhang mit Bluthochdruck, können blutdrucksenkende Medikamente bereits Abhilfe schaffen. Bei Craniomandibulärer Dysfunktion (CMD) oder Halswirbelsäulenbeschwerden sind möglicherweise physiotherapeutische Behandlungen sinnvoll. Dadurch können mögliche Fehlstellungen oder Verletzungen korrigiert werden, die zu den Ohrgeräuschen führen.
Therapie bei akutem Tinnitus
Ein akuter Hörverlust mit akutem Tinnitus sollte wie ein Hörsturz behandelt werden. Oft ist beispielsweise Kortison Mittel der Wahl, welches systemisch, also in Tablettenform oder per Transfusion verabreicht wird. In einigen Fällen erfolgt eine Injektion direkt ins Mittelohr (intratympanale Applikation).
Therapie bei chronischem Tinnitus
Die therapeutischen Maßnahmen sind darauf ausgerichtet, die Beschwerden der Betroffenen zu lindern, heilbar ist chronischer Tinnitus nicht.
Das Tinnitus-Counseling stellt einen wesentlichen Beitrag im Rahmen der Behandlung dar und umfasst die Beratung sowie Aufklärung der Betroffenen. Im Counseling steht das Erlernen von Strategien zum Umgang mit dem Geräusch im Vordergrund. Betroffene erlernen Techniken, die hilfreich sein können, den Tinnitus besser zu verarbeiten oder auch zurückzudrängen. Zudem werden Behandlungsmöglichkeiten hinsichtlich möglicher Begleiterkrankungen besprochen.
Der Hörverlust bei chronischem Tinnitus lässt sich mit einer passenden Hörhilfe ausgleichen und positiv beeinflussen. Dazu kann die behandelnde Ärztin oder der behandelnde Arzt ein Hörgerät verordnen. Das Hörgerät – auf einem oder beiden Ohren – kann dazu beitragen, dass die Tinnitusbelastung geringer wird und die Betroffenen die Ohrgeräusche mit der Zeit weniger bewusst wahrnehmen. Bei besonders stark-schwerhörigen Patientinnen und Patienten wird statt eines normalen Hörgerätes ein Cochlea-Implantat (CI) verordnet.
Bestandteil der Therapie von chronischem Tinnitus sind die kognitive Verhaltenstherapie und psychodynamische/psychophysiologische Therapieverfahren. Diese haben zum Ziel, dass die Betroffenen sich einerseits so an die Ohrgeräusche gewöhnen, dass sie sie kaum noch wahrnehmen. Und andererseits sollen sie erlernen, wie sie besser mit den Symptomen umgehen, ohne dass es sie zu stark belastet. Die Verhaltenstherapie ist ambulant und stationär möglich. Mittlerweile gibt es aber auch die Möglichkeit, eine Digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) per Rezept zu verordnen, sodass diese zuhause durchgeführt werden kann. Bei schwerer Depression oder dem Gefühl der Hilflosigkeit können teilstationäre oder stationäre Therapien nötig sein, um die Situation des Betroffenen zu bessern.
Die sogenannte Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT), auch Tinnitus-Bewältigungstherapie (TBT), ist eine Habituationstechnik (Gewöhnung), die den Stress durch die Ohrgeräusche mindern soll. Es handelt sich bei der TRT um eine Kombination aus Counseling und einer akustischen Therapie. TRT sollte im Rahmen der Behandlung als langfristige Maßnahme angesehen werden.
Auch die Teilnahme an Selbsthilfegruppen kann hilfreich für Betroffene sein. So wirkt der Austausch unterstützend und kann Wege aufzeigen, wie andere Betroffene ihren Alltag mit Tinnitus bestreiten.
Nicht empfohlen in der Tinnitus-Therapie
Es gibt diverse Verfahren und Medikamente, die zur Behandlung von chronischem Tinnitus als wirksame Heilmethoden angeboten werden. Dazu zählen etwa Nahrungsergänzungsmittel oder Rauschgeneratoren. Für diese gibt es jedoch kaum Evidenzbelege, die ihre Wirksamkeit bestätigen noch sind sie in den S3-Leitlinien zur Behandlung von chronischem Tinnitus enthalten.
Leben mit Tinnitus: Tipps für den Alltag
"Wenn der Tinnitus einen störenden Charakter annimmt und von längerer Dauer ist, rate ich dazu, rechtzeitig einen HNO-Arzt zu konsultieren, um organische Ursachen auszuschließen und Therapieempfehlungen zu erhalten", sagt Dr. Christian Werner. Sind organische Ursachen ausgeschlossen, können folgende Tipps den Alltag mit Tinnitus etwas erleichtern:
- Counseling (Beratung einholen)
- Habituationsstraining
- Stress meiden und Stressmanagement erlernen
- Kognitive Verhaltenstherapie
- Entspannungsübungen
- Selbsthilfegruppen besuchen
Wissen zum Anhören
Hören Sie jetzt in den Podcast "Einmal abhören bitte! #04: Pfeifen im Ohr: Das Rätsel um Tinnitus" mit Dr. Christian Werner.