Was ist Trauer?
"Trauer ist eine normale Reaktion auf einen Verlust. Im Gesundheitswesen sehen wir Trauer vor allem bei Angehörigen nach dem Tod eines nahestehenden Menschen. Aber auch die Patienten trauern, zum Beispiel bei einer weit fortgeschrittenen Krebserkrankung angesichts des bevorstehenden Todes oder wenn sie krankheitsbedingt bestimmte Fähigkeiten oder Kompetenzen verlieren", sagt Prof. Dr. Lukas Radbruch, Chefarzt und Leiter des Zentrums für Palliativmedizin am Helios Klinikum Bonn/Rhein-Sieg.
Auch andere Verluste können Trauer auslösen, etwa der Tod eines Haustieres, der Verlust des Arbeitsplatzes, des eigenen Heims oder eine Trennung oder Scheidung. Trauer wird von vielen Emotionen begleitet: Scham- und Schuldgefühle, Wut und Traurigkeit. Oft gehen die negativen Gefühle mit Störungen im psychischen Wohlbefinden einher, wie Konzentrations- und Schlafstörungen. Hinzukommen bei vielen noch körperliche Belastungen wie Appetitmangel, Müdigkeit, Übelkeit oder sogar Schmerzen.
Warum ist Trauer wichtig?
Trauer dient dazu, sich an die unwiderruflich veränderte Lebenssituation anzupassen. Sie ist nicht angenehm, aber ein wichtiger Teil des Lebens. Als Kehrseite der Liebe ist sie die Reaktion auf das Ende einer sinnerfüllten Beziehung. Wäre der Mensch nicht in der Lage zu trauern, wäre er auch nicht fähig, eine tiefe, sinnerfüllte Beziehung zu anderen Menschen einzugehen. Endet eine solche Beziehung, ist sie meist mit Trauer verbunden.
Trauer je nach Alter: Gibt es Unterschiede?
Trauer zeigt sich bei jedem Menschen ganz unterschiedlich, oft wird sie auch als stark schwankend erlebt. "Das Gefühl ‚Ich komme wieder ganz gut zurecht‘, kann durch einen Auslöser wie ein Bild oder ein Lied im Radio gebremst werden. Zugleich können diese Auslöser auch zu einem neuen Schub von starken Verlustgefühlen führen", sagt der Chefarzt, der zusammen mit Martina Kern auch die wissenschaftliche Leitung der Akademie für Palliativmedizin am Klinikum innehat. Das erste Trauerjahr, also das erste Mal Weihnachten, der erste Urlaub oder der erste Geburtstag ohne die vertraute Person ist für viele Hinterbliebene besonders schwer.
Kinder und Jugendliche trauern anders als Erwachsene
Kleine Kinder haben ein anderes Verständnis als Erwachsene. Erst im Verlauf ihrer Entwicklung verstehen sie, dass jeder Mensch sterben wird. Sie haben im Vergleich zu Erwachsenen nicht verstanden, dass jeder Mensch sterben wird, Tote keine Körperfunktionen mehr haben und sie auch nicht mehr ins Leben zurückkommen. In der Kinderwelt kann das Denken zunächst sein: Jeder Mensch kann sterben, aber nicht ich oder meine Eltern oder Oma und Opa. Wenngleich Kinder den Verlust anders verstehen, spüren sie ihn deutlich, nur trauern sie anders. "Oft haben Kinder intensive und manchmal schnelle Stimmungswechsel, in einem Moment sind sie traurig und im nächsten wenden sie sich wieder dem Spiel oder der Ablenkung zu", sagt Martina Kern.
Jugendliche sind in einer ohnehin schon herausfordernden Zeit ihres Lebens, wie dem Finden der eigenen Identität und dem Abnabeln von den Eltern. Hier werden Gefühle oft besonders intensiv erlebt. Verlieren sie einen Elternteil oder eine nahe Bezugsperson, kann es zu schwer fassbaren Gefühlen aus Schuld, Wut und Trauer kommen. Auch Jugendliche brauchen Erwachsene, die helfen, Gefühle wahrzunehmen und zu benennen, die helfen, das gemeinsam auszuhalten. So unterstützt und begleitet haben sowohl Kinder als auch Jugendliche dann oft selbst Ideen, wie sie mit der Trauer umgehen können, wie sie sich zum Beispiel beim Abschiednehmen oder bei der Trauerfeier beteiligen können.
Prof. Lukas Radbruch: "Kinder müssen nicht abgeschirmt werden, wenn es um Sterben und Tod geht. Sie können auch ins Krankenhaus zu sterbenden Menschen oder mit zur Beerdigung genommen werden. Oft ermutigen wir die Erwachsenen, denn das Erleben ist für Kinder oft beruhigender als ihre Fantasie, wenn sie beispielsweise Wortfetzen aufschnappen oder die traurigen Gesichter ihrer Eltern sehen. Das Personal in der Klinik steht immer unterstützend zur Seite."
Trauerphasen: Zeit nehmen und geben
Vor über 50 Jahren hat Elisabeth Kübler-Ross die Phasen der Trauer beschrieben:
- Verdrängung
- Aggression
- Verhandeln
- Depression
- Akzeptanz
"Die Modelle der Trauerphasen zeigen die häufigsten Reaktionsweisen und deren Normalität angesichts von Tod und Sterben. Sie sind jedoch keine Stufen, die man nach und nach erklimmt. Vielmehr können sie in unterschiedlicher Reihenfolge ablaufen", sagt Prof. Lukas Radbruch. Aktuelle Prozessmodelle beschreiben Trauer als ein Hin und Her zwischen Trauerarbeit und eine Orientierung auf das Leben im hier und jetzt ohne den geliebten Menschen (Stroebe und Schut, Duales Prozessmodell der Trauer).
Wichtig: Trauer hat keine zeitliche Begrenzung. Sie endet weder nach einem Monat noch nach einem Jahr. Das Trauermodell der anhaltenden Beziehungen nach Klass, Silverman und Nickman geht davon aus, dass die Trauer nach dem Verlust einer Bezugsperson lange andauern kann, sich aber im Laufe der Zeit natürlich verändert. Auch nach langer Zeit kann intensive Sehnsucht erlebt werden und es kann eine Beziehung mit dem Verstorbenen bestehen bleiben, vielleicht wird er oder sie zum inneren Ratgeber.
Umgang mit Trauernden
Häufig berichten Trauernde, dass sie sich nach den ersten Tagen in ihrer Trauer stigmatisiert fühlten und Begegnungen und Gespräche als bedrückend empfanden. Angehörige und Freunde wissen oft nicht, was sie sagen sollen oder wie sie helfen können und scheuen den Kontakt – auch, um nichts falsch zu machen oder etwas Falsches zu sagen. "Was Trauernde brauchen, ist in erster Linie Verständnis und das Gefühl, eingebunden zu sein. Das ist der Nachbar, der das Mittagessen vorbeibringt, die Arbeitskollegen, die sie in die Kaffeepause mitnehmen, und die Freunde, die sie abends für gemeinsame Unternehmungen abholen, sowie Personen, die still da sind, zuhören und die Situation mit aushalten. Ziel ist dabei nicht, die Trauernden abzulenken oder aus ihrer Trauer raus zu holen – das geht nicht. Sondern sie in der Gemeinschaft zu halten. Sie dabei sein zu lassen, in und mit ihrer Trauer", sagt Martina Kern. Es kann auch helfen, einfach direkt nachzufragen, ob der Trauernde über den Verlust sprechen möchte oder nicht.
Für Trauernde gibt es eine Vielzahl an Hilfs- und Unterstützungsangeboten. Die erste Trauerbegegnung kann schon in der Klinik beginnen. Sie ist meist sehr kurz, aber wichtig für den weiteren Trauerverlauf. Für die Zeit nach dem Krankenhaus empfehlen die Experten für Palliativmedizin eine Trauerbegleitung durch ambulante Hospizdienste, Trauergruppen oder auch Trauer-Cafés. Diese Orte können helfen, mit den eigenen Verlustgefühlen besser umzugehen.
Warum Trauer nicht endet
„Trauer hat kein Ende als solches. Sie bleibt immer. Üblicherweise endet allerdings die akute Trauer nach längerer Zeit. Wenn dies nicht passiert, kann eine Therapie erforderlich sein. Wir sprechen dann von einer anhaltenden Trauerstörung", erklärt Prof. Dr. Lukas Radbruch.
"Wichtig zu betonen ist, dass nicht jeder Trauerprozess, der länger als sechs Monate anhält, als Störung zu betrachten ist. Es dauert manchmal Monate und Jahre. Lediglich wenn der Alltag zu sehr eingeschränkt wird, sollten sich Betroffene professionelle Hilfe suchen", sagt Martina Kern.
Eine Trauerstörung ist gekennzeichnet durch ein starkes Verlangen nach dem Verstorbenen oder der anhaltenden Beschäftigung mit dem Verlust. Starke Gefühle wie Trauer, Schuld, Wut, die Unfähigkeit, positive Stimmung zu erleben, emotionale Taubheit oder die Schwierigkeit, mit anderen sozial zu interagieren sowie anderen Aktivitäten nachzugehen, begleiten diese Zeit.
Trauerbewältigung oder Depression?
Manchmal kann es schwierig sein, die anhaltende Trauer und eine begleitende Depression zu unterscheiden. Typische Kriterien einer Depression wie etwa Antriebslosigkeit, Schlafstörungen oder Gedanken an den Tod, werden von einer überwiegenden Mehrzahl der Trauernden über einen längeren Zeitraum erfüllt. Daher sollte bei der Diagnose „Depression“ Trauer nach dem Verlust einer Bezugsperson vorher ausgeschlossen werden.
Hilfreicher Umgang mit Trauer
- Trauer zulassen: Sie müssen jetzt nicht stark sein, lassen sie Ihre Gefühle und den Schmerz zu.
- Über Schmerz und Gefühle sprechen: Es kann befreiend wirken, wenn Sie über das sprechen, was in Ihnen vorgeht.
- Gedanken niederschreiben: Wenn Sie nicht über Ihre Gefühle reden möchten, kann es helfen, diese niederzuschreiben und so den Prozess der Trauerarbeit unterstützen.
- Auch Ablenkung suchen: mal Pause machen, versuchen sich dem Leben zuzuwenden, sich trotz alledem etwas Gutes tun, zum Beispiel Sport, Spazieren gehen, sich etwas schönes kochen oder auch wieder einen Teil normalen Alltag zum Beispiel mit Arbeit leben, kann kurzzeitig Raum für andere Gedanken schaffen.
- Hilfe in Anspruch nehmen: Wenn Sie merken, dass die Trauer sie überwältigt, suchen Sie sich Hilfe in Selbsthilfegruppen – beim Therapeuten, oder finden Sie über den Bundesverband Trauerbegleitung Adressen von professionellen Trauerbegleitern. Lokale Hospizdienste informieren über Trauerbegleitungsangebote, es gibt internetbasierte Unterstützungsangebote.
- Mit anderen Trauernden austauschen: Reden Sie mit anderen Personen, die ebenfalls eine ähnliche Situation durchgemacht haben und Ihre Trauer nachvollziehen können.
- Sich selbst Zeit geben: Niemand erwartet, dass Sie sofort wieder funktionieren. Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen, um den Verlust zu verarbeiten.
Lernen, Tod und Sterben zu akzeptieren
Fast jeder Mensch hat Angst vor dem eigenen Tod oder dem nahestehender Menschen. Um sich von dieser Angst nicht überwältigen zu lassen, kann es helfen, sich bewusst mit den Themen Tod und Sterben auseinanderzusetzen. "Man sollte sich und vertrauten Menschen immer mal wieder bewusst ein paar Fragen stellen. Etwa: Was ist mir wichtig im Leben? Was im Sterben? Wie und wo möchte ich sterben und wie auf keinen Fall? Dieses zunächst angstmachende Gedankenspiel, verliert im Gespräch meist schnell seinen Schrecken", sagt Prof. Dr. Lukas Radbruch.
Die Gespräche können auch im Rahmen einer Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht festgehalten werde. Für Angehörige ist es gut zu wissen, was sich der andere wünscht. Und für viele Menschen ist es beruhigend, wenn sie wissen, wer für sie eintritt. Auch das Verfassen eines Testaments oder das Ausfüllen eines Organspendeausweises können dazu beitragen, sich mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen. „Die Auseinandersetzung mit den Themen Sterben und Tod ist unserer Erfahrung nach die beste Vorbereitung“, weiß Martina Kern.