„Man ist einfach kein Mensch mehr.“
Wenn Michael S.* auf seine Leidenszeit zurückblickt, senkt sich seine Stimme. Der gelernte Fliesenleger ist ein kräftiger, lebenslustiger Mann, der sein Leben lang körperlich hart gearbeitet hat und einiges aushalten kann. Dass er kurz vor dem verdienten Ruhestand wegen unerträglicher chronischer Schmerzen einmal regelrecht abhängig von Opiaten sein würde, wäre ihm nie in den Sinn gekommen.
Vor sechs Jahren werden ihm bei einer Operation an der Lendenwirbelsäule Schrauben implantiert. Im Anschluss beginnt ein langer Leidensweg. Erst anderthalb Jahre später zeigt sich auf den Röntgenbildern ein bis dahin unerkannter Schraubenbruch. Auch nach der Entfernung hören die Schmerzen nicht auf – im Gegenteil. Immer höhere Schmerzmitteldosierungen sind die Folge. Laufen kann er nur noch mit dem Rollator. Dann erreicht den 67-Jährigen im Frühjahr ein Anruf von der damals neugegründeten Schmerztherapie der Helios Klinik Attendorn.
„Zunächst galt es, langsam die Opiate abzusetzen. Herr S. war in eine richtige Abhängigkeit geraten“, beschreibt Dr. Andriy Lytvyn den Zustand seines Patienten nach dem Aufnahmegespräch. Der Oberarzt leitet die Sektion Schmerztherapie und kann ihm für Anfang März einen stationären Therapieplatz anbieten. Bereits zwei Wochen später ist es soweit. „Extreme Kälte, Schweißausbrüche, dann wiederum regungsloses Verharren – die Entzugserscheinungen waren erstmal heftig“, beschreibt der Schmerzpatient die ersten Tage. Als diese überwunden sind, kann es erst mit der eigentlichen Therapie losgehen, die weit über den Einsatz von Medikamenten hinausgeht.
Patienten durchlaufen Schmerz-Assessment
„Zu unserem multimodalen Therapieansatz gehören Krankengymnastik, Physiotherapie, psychologische Beratung und Ernährungsberatung. Dazu kommen Angebote wie Qigong, Entspannungsübungen und medizinische Bewegungstherapie“, erläutert Dr. Lytvyn die verschiedenen Bausteine, die in der Attendorner Schmerztherapie Anwendung finden. Alle Patienten durchlaufen vor ihrem Aufenthalt ein sogenanntes „Schmerz-Assessment“. Der Aufenthalt im Krankenhaus selbst dauert im Durchschnitt 15 Tage. Am Anfang stehen verschiedene Untersuchungen und viele Patientengespräche. Ziel ist es, herauszufinden, welche Ursachen den Schmerz auslösen und befeuern. Danach richtet sich dann die individuelle Therapie. Bei Herrn S. gehörten zum Beispiel physiotherapeutische Übungen zur Optimierung der Körperstatik und Entspannungsübungen nach Jakobson dazu, Techniken, die auch zuhause individuell ausgeführt werden können.
Das Ziel bestehe neben der Schmerzlinderung auch darin, die Wahrnehmung der Patienten für ihre Umgebung und sich selbst zu sensibilisieren, gibt Nadine Neuhaus einen Überblick. Die erfahrene Pflegefachfrau weiß, was Schmerzpatienten durchmachen. Vieles spiele sich verstärkend auch im Kopf ab. „Wir arbeiten auf eine mentale Veränderung hin, bei der dem Schmerz kein übergeordneter Stellenwert mehr zukommt. Zudem versuchen wir Wege aufzuzeigen, wie sich Hilfestellungen und Ansätze auch nach dem Ende der Therapie erfolgreich in den Alltag integrieren lassen.“
So wie bei Herr S. Er hat inzwischen deutlich weniger Schmerzen, und kann manchmal schon ganz auf seinen Rollator verzichten. Für ihn sind es auch die kleinen Erfolgserlebnisse, die neue Freude schenken und motivieren, weiterzumachen.
„Als ich neulich unter war, ging eine Bekannte einfach an mir vorbei. Sie hatte mich nicht erkannt, weil ich zu Fuß, aber eben ohne Gehhilfe unterwegs war. Dann bin ich auf sie zugegangen und sie traute ihren Augen nicht, als sie merkte, wer vor ihr steht. Solche Momente motivieren mich, das, was ich in meiner Therapie gelernt habe, auch beizubehalten.“
Hinweis: *Name des Patienten aus Gründen des Datenschutzes anonymisiert