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„Das Thema Demenz wird uns überrollen“

Die stetig steigende Zahl an Demenzerkrankungen stellt Gesellschaft und Medizin vor enorme Herausforderungen. Welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt, warum Demenz paradoxerweise das Resultat einer guten gesundheitlichen Versorgung sein kann, und welche Rolle Tageskliniken für die Versorgung von Senioren spielen, erläutert Altersmediziner Dr. Volker Spartmann im Chefarztgespräch.

21. Februar 2025

Dr. Spartmann, als Leiter der Geriatrie der Helios Klinik Attendorn sowie der angeschlossenen Tagesklinik sind Sie täglich mit alten Menschen und ihren besonderen gesundheitlichen Herausforderungen konfrontiert. Welche Rolle spielt die Demenz dabei?

Bei der Demenz handelt es sich zunächst um eine Erkrankung, die dadurch entsteht, dass die Menschen immer älter werden. Sie macht sich durch einen schwerwiegenden Abbau der geistigen Fähigkeiten bemerkbar und führt zu Beeinträchtigungen des Lebensalltags. Die Erkrankten sind natürlich viel betreuungsbedürftiger als andere Senioren, die zwar auch naturgemäß ihre Krankheitsbilder haben, aber kognitiv mit den behandelnden Ärzten und dem Pflegepersonal kooperieren können. Man schätzt, dass aktuell 70 Prozent der über 80-Jährigen in Deutschland davon betroffen sind, Tendenz steigend. Die Deutsche Alzheimergesellschaft sieht voraus, dass die Zahl der Demenzerkrankten 2050 bei 2,3 bis 2,7 Millionen Menschen liegen könnte. Das sind Dimensionen, die wir vor Augen haben müssen – und natürlich auch ihre Auswirkungen.

Warum steigt die Zahl so rasant an?

Früher sind die Menschen häufig schon verstorben, bevor sie überhaupt das Alter erreicht haben, ab dem Demenz ein Thema wird. Als ich noch zur Schule ging, lag die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland bei Männern bei 67 und bei Frauen bei 69 Jahren. Vielen war also keine lange Restlebensdauer nach dem Renteneintritt beschieden. Dieser Alterssprung, den wir jetzt sehen, ist das Resultat einer viel besseren medizinischen Versorgung. Das sehen wir insbesondere im kardiologischen Bereich oder bei Schlaganfällen. Das ist eigentlich eine erfreuliche Entwicklung, aber die Kehrseite ist: Alle Organe im Körper altern dann auch stärker. Und das hat Konsequenzen. Denn das Gehirn bleibt davon nicht ausgenommen.

Stichwort Akzeptanz: Was hat sich im Umgang mit der Demenz ihrer Wahrnehmung nach in den letzten 30 Jahren getan?

Als ich mit der Geriatrie anfing, war das Thema noch weitestgehend ein Tabu, auch innerhalb der Medizin. Es war mit einem Stigma behaftet – und daran hat sich bis heute auch nicht sehr viel geändert. Demenz wird gerade in den Familien immer noch häufig totgeschwiegen, vor allem von den Betroffenen selbst. Dass die Einsicht dafür nicht da ist, liegt allerdings in der Natur der Sache. Man merkt es selbst häufig gar nicht erst oder will es sich nicht eingestehen.

Was sind die vielversprechendsten Ansätze im Umgang mit Demenzerkrankungen?

Vorab: Es gibt bis heute kein Medikament, das Demenz heilen kann. Trotzdem existieren aktuell einige vielversprechende Ansätze. In Europa soll noch in diesem Jahr ein Medikament zugelassen werden, das zumindest hilft, den Verfall zu stoppen. Letztlich versucht man damit, gewisse biochemische Vorgänge im Gehirn zu verlangsamen oder anzuhalten. Der zweite Ansatz ist die Genetik. Es wird intensiv daran geforscht, genetische Merkmale zu finden, die man – ähnlich wie bei Krebserkrankungen –  dann gezielt behandelt. Aber ein Wundermittel, mit dem man den Verfallsprozess wieder zurückdrehen kann, das gibt es nicht. Aber durch gezielte Maßnahmen wie Ergotherapie oder Psychotherapie kann man einige Verlaufsformen der Demenz für einen gewissen Zeitraum kompensieren, sodass Betroffene mehr oder weniger ihr Leben weiterführen können. Aber das ist zeitlich eng begrenzt.

Wir haben bislang viel über Demenz gesprochen. Diese ist aber nur ein Aspekt der Altersmedizin, zu der weit mehr gehört.

Das stimmt. Ein wesentliches Instrument, das wir auch in Attendorn haben, ist eine Tagesklinik. Ein stationäres geriatrisches Angebot ist nach modernen Gesichtspunkten erst dann wirklich komplett, wenn es eine Tagesklinik als teilstationäre Ergänzung vorhalten kann. Das ist heutzutage der Goldstandard, wenn es um die Behandlung von alten Menschen geht.

Tageskliniken verfügen über einen Ansatz, der sich primär an Patienten richtet, die nach einer Behandlung im Krankenhaus noch Zeit bis zur vollständigen Genesung benötigen, ohne dass sie dabei unter stationären Bedingungen leben müssen. Sie werden in der Tagesklinik diagnostiziert und geriatrisch behandelt, absolvieren tagsüber ihre Komplextherapie und fahren nachmittags wieder zurück nach Hause in ihre gewohnte Umgebung.

Was hat es mit dieser Komplextherapie auf sich?

Das zertifizierte Konzept der Komplextherapie ist das Basisprogramm in einer geriatrischen Tagesklinik und verfolgt einen systematischen Behandlungsansatz. Dieser richtet sich an ältere Menschen, die multimorbide sind und nach einem Eingriff, wie zum Beispiel einer Hüftgelenksfraktur, eine längere Heilungszeit brauchen wie ein jüngerer Mensch. Aber auch wenn der Hausarzt über einen längeren Zeitraum beobachtet, dass sein Patient abbaut und sich nicht mehr zurechtfindet, kann er ihn direkt zu uns einweisen. Ein direktes Schadensereignis oder ein vorangegangener stationärer Aufenthalt ist nicht Voraussetzung für eine Einweisung in die Tagesklinik.

Wie läuft die Komplextherapie ab?

Wir halten für unsere Patienten zehn unterschiedliche Therapieformen vor, darunter Physiotherapie, Ergotherapie oder Kunsttherapie, die nach einem individuellen Behandlungsplan und innerhalb eines strukturierten Tagesablaufs durchlaufen werden. Das Ganze hat jedoch auch noch eine wichtige soziale Komponente, denn während der Therapiezeit, in der Regel zwei Wochen, verbringen die Menschen viel Zeit mit den anderen Patienten. Man tauscht sich aus, lacht viel und isst auch gemeinsam zu Mittag. Auch das ist wichtig, denn alles dient dem großen Ziel, den Teilnehmern wieder ein eigenständiges Leben zuhause zu ermöglichen.

Wie findet man heraus, wer für die Tagesklinik geeignet ist?

Indem man vorweg ein geriatrisches Basis-Assessment macht. Jeder neue Bewerber um einen Therapieplatz muss Tests zu seiner Mobilität, Kognition und neurologischen Kompetenz absolvieren. Das funktioniert mit standardisierten Testmethoden relativ sicher. In maximal einer halben Stunde kann man feststellen, welches Potenzial individuell noch vorhanden ist. Denn wir als behandelnde Stelle müssen den Nachweis erbringen, dass die festgelegten Kriterien erfüllt sind, welche von den Krankenkassen verlangt werden.

Für wen ist die Komplextherapie in einer Geriatrischen Tagesklinik nicht sinnvoll?

Die Grenzen liegen in der Schwere der Vorerkrankungen. Es braucht einfach ein Minimum an Restpotenzial, damit die Komplextherapie angewendet werden kann. Ein großer limitierender Faktor ist der Wille des Patienten, an der Verbesserung seines Zustands aktiv mitzuwirken. Besteht dazu keine Bereitschaft, macht für ihn eine Tagesklinik wenig Sinn. Das Gleiche gilt auch, wenn er körperlich nicht mehr in der Lage ist, aktiv an der Therapie teilzunehmen. Erst recht nicht, wenn bereits beim ersten Kontakt eine Demenz offensichtlich ist.

Helios Klinik Attendorn

Chefarzt Geriatrie und Leiter der Geriatrischen Tagesklinik | Helios Klinik Attendorn

Demenz wird gerade in den Familien immer noch häufig totgeschwiegen, vor allem von den Betroffenen selbst.

Helios Klinik Attendorn

Chefarzt Geriatrie und Leiter der Geriatrischen Tagesklinik | Helios Klinik Attendorn

Ein direktes Schadensereignis oder ein vorangegangener stationärer Aufenthalt ist nicht Voraussetzung für eine Einweisung in die Tagesklinik.