Rund fünf Jahre kämpfte Jürgen Kleemeier mit unzähligen Radiochemotherapien gegen den Kehlkopfkrebs, bis er ihn schließlich besiegte. Mit den Folgen, nicht mehr sprechen und nicht mehr schlucken zu können, wollte er sich nicht zufriedengeben. Auf Anraten seiner Ärzte vertraute er sich dem Team der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde rund um den renommierten Chefarzt Prof. Dr. Stephan Remmert an der 250 Kilometer entfernten Helios St. Anna Klinik Duisburg an.
Lange hat Jürgen Kleemeier diesen Moment herbeigesehnt. In der gefilmten Röntgenuntersuchung des Schluckaktes lässt sich verfolgen, wie es ihm gelingt, den mit Kontrastmittel versetzten Brei zu schlucken. Doch von vorne: Nachdem 2015 Stimmlippenkrebs bei Jürgen Kleemeier diagnostiziert wird, muss er sich einer Radiochemotherapie mit allein rund 40 Bestrahlungen unterziehen, bis er 2017 als krebsfrei gilt.
Dann, im Sommer 2019, das sowohl für ihn als auch die behandelnden Ärzte in seinem Heimatkrankenhaus zunächst Unfassbare: Ein Rezidiv, der Krebs ist zurück. Seine Ärzte sehen sich gezwungen, den Kehlkopf – und damit auch das natürliche Verbindungsstück zwischen Luft- und Speiseröhre – zu entfernen. Unterhalb der Schilddrüse wird eine Atemöffnung geschaffen, das sogenannte Tracheostoma, das durch ein in die Luftröhre gebogenes Röhrchen, die Trachealkanüle, stabilisiert wird. Der Schlund, also der oberste Abschnitt der Speiseröhre, wird direkt mit der Mundhöhle verbunden, sodass Kleemeier zehn Tage nach dem Eingriff zunächst wieder schlucken und damit auch essen und trinken kann.
Sprechverlust nicht der schlimmste „Kollateralschaden“
Vorerst sieht es so aus, als wäre der durch die Kehlkopfentfernung bedingte Verlust des Sprechens der schlimmste „Kollateralschaden“ in Kleemeiers Kampf gegen den Krebs. Doch bereits nach wenigen Tagen ergeben sich neue Probleme: Das Gewebe im Halsbereich ist durch die zahlreichen Bestrahlungen massiv geschädigt worden. Wundheilungsstörungen und eine Fistel, durch die Speichel und Nahrung den Weg vom Schlund zum Tracheostoma finden und austreten, setzen Kleemeier zu. „Da fing das Leiden an“, schreibt er beim Interview auf einen Block. Mehrere Versuche die Fistel operativ zu schließen scheitern. Kleemeiers Schlund ist vernarbt und trichterförmig stark verengt, sodass er nicht mehr essen und trinken kann, sondern über eine Magensonde ernährt werden muss.
Ein ganzes Jahr lebt der sonst so lebensfrohe Mann mit den Einschränkungen, die er als massiven Verlust der Lebensqualität empfindet. „Sprechen geht immer, auch wenn man mit Händen und Füßen redet. Aber ohne Geschmack im Mund … Am meisten habe ich vermisst, an Sommertagen etwas Kaltes zu trinken“, flüstert er mit tonloser Stimme. „Das einzige Positive ist, dass man sein Gewicht hält“, ergänzt der frühere 130-Kilo-Mann aus Porta Westfalica, und seine Augen leuchten belustigt im nun schlanken Gesicht. „Für unsere Kinder und mich war es eine sehr schwierige Situation, aber Jürgen ist ganz gelassen und im Großen und Ganzen auch positiv eingestellt geblieben“, erklärt Ehefrau Regina.
Patienten aus Deutschland und der Welt
Mit dieser positiven Energie beschließt der 62-Jährige, sich nicht mit der Situation zufrieden zu geben. Seine Ärzte überweisen ihn an die 250 Kilometer entfernte Helios St. Anna Klinik in Duisburg. Die hier ansässige Abteilung für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde zieht mit einem Schwerpunkt auf der plastisch-rekonstruktiven Chirurgie nach ausgedehnter Tumorchirurgie Patienten aus der ganzen Republik und anderen Ländern an. Sowohl das Vorgespräch als auch die Voruntersuchungen und das Konzept überzeugen Kleemeier und so setzt er sich Ende März 2021 noch einmal einer großen Operation und den damit verbundenen Risiken aus.
Nahtmaterial dünner, als ein menschliches Haar
Während des achtstündigen Eingriffs entnimmt Prof. Remmert mit seinem Team ein rund 6x9 cm großes Stück Unterarmgewebe mit Haut, Bindegewebe und Faszien (Muskelhaut) sowie eine zugehörige Arterie und zwei Begleitvenen, um die künftige Blutversorgung des Gewebes sicherzustellen. Das Ganze wird, die Haut auf der Innenseite, zu einem Rohr geformt und vernäht. Dann wird der so neugebildete Schlund implantiert. Damit das transplantierte Gewebe vom Unterarm einheilt, werden die Gefäße unter mikroskopischer Sicht an kleine Gefäße des Halses mit Fäden die dünner sind als ein menschliches Haar angeschlossen. Diese plastische Rekonstruktion bringt unseren Patientinnen und Patienten einen solchen Zugewinn an Funktionalität und damit auch Normalität, dass der damit verbundene Eingriff und die anschließende Zeit der Heilung eine sehr gute Investition in die Lebensqualität darstellen“, erläutert Prof. Remmert.
Und tatsächlich: Bereits zehn Tage nach dem Eingriff erfolgt die sogenannte Röntgen Breischluck-Untersuchung. Auf den Bildern ist zu erkennen, dass Kleemeier den mit Kontrastmittel versetzten Brei schlucken kann. „Ich muss zwar sehr ordentlich kauen, kann ansonsten aber wieder normal essen und trinken. Das ist eine großartige Leistung des gesamten Teams und auch die Zusammenarbeit mit meiner Heimatklinik hat wunderbar funktioniert“, freut er sich einige Wochen später bei der Nachkontrolle. Nun möchte er den nächsten Schritt gehen und sich ein Stimmventil einsetzten lassen, wodurch die Schleimhaut der Speiseröhre in Schwingungen versetzt wird um ein Ton zu erzeugen, um so ein weiteres Stück Normalität zurückgewinnen.