Ein „komisches Bauchgefühl“ in der 22. Schwangerschaftswoche veranlasst Isabel D. zu einem kurzfristigen Kontrolltermin bei ihrer Gynäkologin. Diese stellt fest, dass ihr Muttermund bereits geöffnet ist und eine akute Frühgeburt droht. Sofort wird die Mutter einer bereits zweijährigen Tochter von ihrem Mann ins Perinatalzentrum am Helios Klinikum Krefeld gebracht. Die folgenden zwei Wochen verbringt die 31-Jährige liegend, engmaschig betreut und in ständiger Sorge, dass jeden Moment die Geburt losgeht. „Es war eine schwierige Zeit, getrennt zu sein von meiner Tochter und meinem Mann, ich fühlte mich total hilflos“, erinnert sie sich.
Graubereich der Medizin
Besonders zermürbend: Das ungeborene Kind befindet sich in einem Graubereich der Lebensfähigkeit, denn zwischen der 23. und 25. Schwangerschaftswoche wird ganz individuell und gemeinsam mit den Eltern entschieden, ob das Kind nach der Geburt kurativ oder palliativ behandelt wird. Clemens Andrée, Leitender Oberarzt der Neonatologie erklärt: „Wir kämpfen im Perinatalzentrum gemeinsam mit den Gynäkologen um jeden Tag, den das Kind im Bauch der Mutter bleibt, denn jeder Tag zählt und verbessert die Prognose des Kindes. Sind die Voraussetzungen für den weiteren Verlauf der Schwangerschaft schwierig, besprechen wir mit viel Feingefühl und Offenheit gemeinsam mit den Eltern die Entwicklungsprognose.“ Isabel D. und ihr Mann vereinbaren mit den Ärzt:innen kurative Therapieschritte, sollte das Kind vor der 25. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen. „Die Ehrlichkeit der Ärzte in dem Gespräch ist mir sehr positiv in Erinnerung geblieben, wir wollten nämlich nichts beschönigt bekommen, um uns auf den Ernstfall einzustellen“, erinnert sich Isabel. Die regelmäßigen Besuche des Psychosozialen Diensts helfen zusätzlich, mit der Situation umzugehen. Auch die Stillberaterinnen des Helios Mutter-Kind-Zentrums führen früh Gespräche mit Isabel D.. „90 Prozent der Frühchen bei uns werden mit Muttermilch zumindest teilernährt. Unser Ziel ist es, auch die Extremfrühchen mit Muttermilch zu ernähren“, erläutert Stillberaterin Barbara Beudgen. „Denn Muttermilch hat einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung von Frühchen. Sie kann Darmentzündungen verhindern, verringert Infektionen und fördert die neurologische Entwicklung.“
Geburt im Perinatalzentrum Level 1
Am 12. Januar kann die Geburt nicht mehr hinausgezögert werden. Um 12.35 Uhr kommt die kleine Jella mit 440 Gramm per Kaiserschnitt zur Welt. Ein zehnköpfiges Team bestehend aus Gynäkolog:innen, Neonatolog:innen, Anästhesist:innen, Intensivpflegekräften und Hebammen kümmert sich bei Extrem-Frühgeburten um die Erstversorgung von Mutter und Kind. Bange Minuten für die Mutter im Kreißsaal, während Jella im Nebenraum medizinisch betreut wird. „Jella hatte die Nabelschnur um den Hals gewickelt und startete ohne Eigenatmung ins Leben. Wir haben ihr sofort eine Atemhilfe angelegt, so dass sich die Lunge entfalten konnte und die Herzfrequenz stieg wie gewünscht an,“ erklärt Clemens Andrée. „Bei Jella war zum Glück keine invasive Beatmung nötig, da sie dann schnell selbst atmete. Das ist sehr positiv, denn eine invasive Beatmung kann der Frühchen-Lunge schaden.“ Nach der Erstversorgung sehen die Eltern Jella das erste Mal. „Vor diesem Moment hatte ich große Angst, da ich nicht wusste, wie ich es verkraften würde, meine so kleine Tochter zu sehen. Dann flossen Tränen – vor Angst, Freude, Sorge und Liebe. Das waren so viele Emotionen zugleich,“ erinnert sich Isabel D. und fügt mit einem Lächeln hinzu: „Aber es gab auch Hoffnung. Mein Mann, meine Tochter und ich haben alle Geburtsdaten, die nur aus den Zahlen 1 und 2 bestehen. Und Jella kam am 12.1. auf die Welt. Für mich war das ein gutes Omen.“
Leben auf der Intensivstation
Vom Kreißsaal geht es für die kleine Jella im Inkubator direkt auf die angebundene Kinderintensivstation. Hier werden Extremfrühchen wie Jella rund um die Uhr intensiv betreut – immer unter Einbezug der Eltern. „Schon zwei Tage nach der Geburt konnte ich das erste Mal mit Jella kuscheln, mit vielen Handtüchern, Heizstrahlern und natürlich noch mehr Unsicherheit im Umgang mit einem so kleinen, zarten Wesen“, beschreibt Isabel D. das erste Känguruhing. Fachkinderkrankenschwester für Intensivpflege und Anästhesie, Susanne Heß, ergänzt: „Wir betreuen hier nicht nur unsere kleinen Patientinnen und Patienten, sondern unterstützen natürlich auch die Eltern bei der Versorgung ihrer Kinder und versuchen ihnen Selbstsicherheit und Zuversicht zu geben. Eine gute Eltern-Kind Bindung ist wichtig für die weitere Entwicklung der Frühchen.“ So werden Meilensteine in der Entwicklung der Kinder gemeinsam dokumentiert und zelebriert: Es gibt ein Frühgeborenen-Tagebuch, in dem das erste Baden, Kuscheln oder der erste Geschwisterbesuch festgehalten wird. Jedes Frühchen bekommt eine vom Team gehäkelte Krake, ein Kuscheltier, deren Tentakel an die Nabelschnur im Bauch erinnern und damit Sicherheit und Geborgenheit geben soll. Als eigenes kleines Ritual bastelte Isabel D. eine Giraffe und klebte für jeden Tag auf der Station ein Herz darauf: „Das war das erste, was ich morgens getan habe, wenn ich das Zimmer betrat. Die Giraffe gab mir Zuversicht, denn mit jedem Tag wurde unsere Jella stärker und kräftiger.“
Neues Beatmungsverfahren
„Jellas Entwicklung verlief wie im Bilderbuch“, bestätigt der Leitende Arzt der Neonatologie. „Es gab – abgesehen von Anzeichen einer beginnenden Darmentzündung, die wir mit Antibiotika schnell und effektiv behandeln konnten – keine Komplikationen.“ Ein entscheidender Faktor dabei war: Jella musste zu keinem Zeitpunkt invasiv beatmet werden – eine Seltenheit bei Extremfrühchen. „Dazu hat ein spezielles Beatmungsverfahren beigetragen, die nichtinvasive Hochfrequenzoszillation. Dabei wird eine verbesserte Belüftung der Lungen durch Kombination eines leichten Überdrucks mit kurzen „hechelnden“ Atemzügen, etwa 600 Atemzüge pro Minute, erreicht. Die Eigenatmung des Frühgeborenen wird erhalten. Dieses Verfahren ist deutlich lungenschonender als eine invasive Beatmung“, erklärt der Neonatologe und ergänzt: „Durch dieses Verfahren konnten wir die Zeiten mit invasiver Beatmung bei Frühgeborenen insgesamt deutlich verkürzen.“ Vier Monate verbringt Jella auf der Intensivstation. „Ich wusste zu jedem Zeitpunkt, dass unsere Tochter hier in einem geschützten Raum sicher und optimal aufgehoben ist. Auch wir als Eltern haben uns auf der Station sehr wohl, ja fast heimisch gefühlt,“ erzählt die zweifache Mutter. Am 19. Mai, nur zwei Wochen nach dem eigentlich errechneten Geburtstermin, wird sie mit einem Gewicht von 3100 Gramm nach Hause entlassen. Inzwischen hat sich die Familie gut zu Hause eingelebt und Jella entwickelt sich prächtig: „Sie ist so interessiert am Essen, wir werden wohl bald mit der Beikost starten“, lacht Isabel D.. Oberarzt Clemens Andrée resümiert: „Bei allem was wir als Team hier leisten – wir sind nicht die Helden. Das sind die Kleinsten der Kleinen, die sich ihren Platz im Leben erkämpfen.“
So wie Jella, die starke Kämpferin.