Ein Fuß nach vorne, viermal auf den Boden tippen, aufs andere Bein wechseln und den Fuß viermal auf den Boden tappen. Das ist der Grundschritt zum aktuellen Video-Trend, der „Jerusalema-Challenge“. Hunderte von Videos zeigen Menschen aus der ganzen Welt, wie sie zusammen tanzen. Auch in der Helios Klinik Wipperfürth tanzten dazu Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Patientinnenund Patienten und begeisterten auf den Social-Media-Kanälen des Krankenhauses. Im Video zu sehen ist dabei auch die Schmerzpatientin Sylvia Hahne, die gemeinsam mit Mitpatientinnen das Tanzbein schwingt. Was so einfach und beschwingt bei der jungen Frau aussieht, wäre vor einigen Monaten noch gar nicht denkbar gewesen. Da konnte Sylvia Hahne kaum stehen. Erst mithilfe einer Rückenmarkstimulation erlebte die junge Wipperfürtherin einen deutlichen Lebenswandel und lernte das Laufen wieder neu.
Vom Bandscheibenvorfall in den Rollstuhl
Die Krankheitsgeschichte der Wipperfürtherin begann 2007 mit Rückenschmerzen, ausgelöst durch die schwere körperliche Arbeit als Altenpflegerin und die Betreuung der auf den Rollstuhl angewiesenen Schwester. Eine Schmerztherapie sollte der heute 38-jährigen Sylvia Hahne helfen, diese Schmerzen wieder in den Griff zu bekommen – doch im Bewegungsbad der Therapieeinrichtung kann die Wipperfürtherin ihre Beine nicht mehr spüren. Mehrere Bandscheibenvorfälle sind die Ursache für die Komplikationen. Sylvia Hahne wird daraufhin operiert, doch auch danach stellt sich kein Gefühl mehr in den Beinen ein. Ab da an ist die junge Frau auf den Rollstuhl angewiesen. Sylvia Hahne muss ihr Leben vollkommen umstellen.
Erst keine Aussicht auf Behandlungsmöglichkeit
Monate vergehen und auch die Rückenschmerzen, die durch die Operation eigentlich verschwunden sein sollten, sind noch immer da. Die Nervenstränge werden immer mehr in Mitleidenschaft gezogen. Sylvia Hahne hält zuerst an der Hoffnung fest, dass ihr geholfen werden kann, sucht verschiedenste Ärzte auf. Doch: „Die Ärzte sahen keine Behandlungsmöglichkeiten bei mir“, erzählt die junge Frau. Um zumindest einfaches Stehen zu ermöglichen erhält Sylvia Hahne elektronische Ganzbein-Orthesen, die zur Stabilisierung dienen sollen. 2010 entwickeln sich immer mehr Spastiken, die auch das Stehen kaum mehr möglich machen. Mehrere Stürze sind die Folge. Auch die folgenden Schmerztherapien und Reha-Aufenthalte helfen der 38-Jährigen nur wenig weiter. Die bis zu ihrer Erkrankung lebenslustige Frau verliert immer mehr den Mut. „Wenn ich heute darauf zurückblicke, wie ich mich gegenüber Familie und Freunden verhalten habe, wird mir ganz anders. Ich war genervt, aggressiv und hatte immer nur schlechte Laune“, beschreibt Sylvia Hahne ihr damaliges ich.
Neue Behandlungsmethode schenkt Hoffnung
2016 wird die Patientin nach einem Sturz notfallmäßig in die Helios Klinik Wipperfürth eingewiesen. Hier wird Sylvia Hahne durchgecheckt und erfährt zufällig von der ortsansässigen Schmerzklinik. „Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich eigentlich schon so gut wie aufgegeben. Doch das Angebot der Klinik im Bereich der Schmerztherapie ließ in mir doch noch einmal einen kleinen Funken Hoffnung aufleuchten“, beschreibt Frau Hahne rückblickend. Die Wipperfürtherin begibt sich kurz darauf in die zweiwöchige Schmerztherapie des Krankenhauses. Im Rahmen der multimodalen Schmerztherapie wird die Patientin durch ein interdisziplinäres Team aus Ärzten, pflegerischem Fachpersonal, Psychotherapeuten, Physio- und Ergotherapeuten behandelt. Sylvia Hahne macht erste Behandlungsfortschritte, doch die langjährigen Nervenschädigungen sind auch für das Team der Schmerztherapie eine Herausforderung. Eine neue Behandlungsmethode, die zu diesem Zeitpunkt in der Klinik etabliert wird, könnte weitere Fortschritte ermöglichen: Uwe Mutter, Oberarzt der Allgemein- und Viszeralchirurgie der Klinik, behandelt immer mehr Schmerzpatienten mit der sogenannten „spinalen Rückenmarkstimulation“. Bei der Rückenmarkstimulation wird ein kleines Gerät implantiert, das einem Herzschrittmacher ähnelt. Das Gerät erzeugt sanfte elektrische Impulse über mehrere Elektroden, sodass chronische Schmerzen darüber reduziert werden können.
Enge Zusammenarbeit zwischen Fachbereichen
Sylvia Hahne ist zu Anfang skeptisch. Nach ihrer Operation am Rücken, die damals den Krankheitsverlauf ausgelöst hat, will sich die Patientin eigentlich nicht noch einmal operieren lassen. Zudem hält die Operation in ihrem Fall zusätzliche besondere Herausforderungen bereit. „Ob eine Rückenmarkstimulation gemeinsam mit dem Nutzen der Orthesen möglich ist, war uns erst einmal unklar“, beschreibt Uwe Mutter. Der Oberarzt setzt sich dazu intensiv mit dem möglichen Zusammenspiel beider Hilfsmittel auseinander, bevor er im April 2018 gemeinsam mit dem interdisziplinären Team der Klinik die erste Testung umsetzt. Denn um einen Patienten optimal mit dieser Therapieform zu versorgen, ist eine enge Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Fachbereichen Chirurgie, Physiotherapie und Schmerztherapie notwendig.
Die Schmerzpatientin reagiert gut auf die Behandlungsform, sodass ihr im Mai der Schrittmacher permanent implementiert wird. Schnell zeigen sich erste Erfolge: „Bereits im Juni hatte ich keine Spastiken mehr. Mein Schmerzniveau, welches zuvor bei 9-10 anzusiedeln war, lag inzwischen bei 3-4“, beschreibt Sylvia Hahne. Bis heute hat sich das Schmerzempfinden so weit reduziert, dass die junge Frau nur noch selten Schmerzmittel benötigt.
Auch in der Mobilität der jungen Patientin sind in den Monaten nach der Operation immer deutlichere Fortschritte zu erkennen, so weit, dass Sylvia Hahne ab Januar 2019 in einem Rhea-Aufenthalt damit beginnt, erste Gehversuche mit Unterstützung neuer, elektronischer Ganzbein-Orthesen vorzunehmen. Das Wiedererlernen des Laufens ist dabei eine große Herausforderung. Besonders ihr Physiotherapeut der Reha-Einrichtung, der Frau Hahne während des gesamten Krankenverlaufs engmaschig betreute, unterstützte die Patientin auch nach der operativen Behandlung. Gemeinsam mit ihm trainierte Frau Hahne unentwegt, auch wenn es Tage gab, an denen das Training sehr anstrengend und ermüdend war. „Aber mein Physiotherapeut hat mich immer unterstützt und mir Mut gemacht. Nur so konnte ich wieder das Laufen erlernen.“, erklärt Sylvia Hahne. Heute, im Frühjahr 2021, braucht die junge Frau den Rollstuhl nur noch daheim, für längere Strecken und wenn sie, bedingt durch kurzzeitige, starke Nervenschmerzen, die elektronischen Ganzbein-Orthesen nicht tragen kann. Ansonsten versucht Sylvia Hahne, weitestgehend auf den Rollstuhl zu verzichten. Ein Gehstock bzw. Unterarmgehhilfen bieten ihr in manchen Situationen noch Halt, aber „diese soll möglichst auch noch verschwinden“, erklärt Sylvia Hahne.
Für Ralf Trogemann, leitender Arzt der Abteilung für Schmerztherapie, ist Sylvia Hahne ein Beispiel dafür, welche Behandlungserfolge in der Schmerztherapie heutzutage möglich sind. Dennoch ist auch er von dieser Entwicklung der Patientin überwältigt:
Neue Lebensqualität und ein Höhenflug
Neben den körperlichen Fortschritten veränderte sich auch der psychische Zustand der Patientin im Laufe der Behandlungen. Sylvia Hahne wird erst jetzt richtig bewusst, wie viele Jahre sie unter ihrem Zustand gelitten hat. Auch Ralf Trogemann betont mehrfach den positiven Wandel der jungen Frau im Gespräch. Er macht jedoch auch deutlich, dass diese Veränderungen nicht nur durch die Therapien allein zustande kommen. Vielmehr muss auch der Patient dazu bereit sein, aktiv mitzuarbeiten. Nur so können solche Entwicklungen wie bei Frau Hahne erreicht werden: „Frau Hahne hat einen unglaublichen Wandel durchlebt und sich mühsam ins Leben zurückgekämpft. Auch jetzt hat sie Ziele, auf die sie hinarbeitet. Nur durch diese Eigenmotivation sind solche Therapieerfolge letztendlich möglich, denn dahinter steckt viel Arbeit und Training.“
Nach all den Jahren traut sich Sylvia Hahne nun auch wieder zu träumen. Einen Herzenswunsch möchte sie sich bald schon erfüllen: Gleitschirmfliegen! „Mein Leben hat endlich wieder Fuß gefasst! Nun möchte ich all meine Möglichkeiten, die ich habe, ausnutzen und auch mal etwas wagen“, beschreibt die Patientin ihre Entscheidung für den Höhenflug. Uwe Mutter kann diesen Wunsch guten Gewissens unterstützen: „Mit einer Rückenmarkstimulation sind keine Hochgeschwindigkeitshobbies möglich. Aber solch ein Gleitschirmflug stellt kein Problem dar“, erklärt der Oberarzt.